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Politik

Martin Aust: "Russland ist kein Imperium"

15. Juni 2019

Der Historiker Martin Aust spricht im Interview mit der DW über Russlands imperiales Erbe und die nationale Mobilisierung der letzten Jahre. Er entwirft mehrere Szenarien für die Zeit nach Präsident Wladimir Putin.

Martin Aust, Professor für die Geschichte und Kultur Osteuropas an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Bild: privat

Deutsche Welle: Herr Professor Aust, in Ihrem neuen Buch "Die Schatten des Imperiums - Russland seit 1991" betonen Sie, wenn man Russland verstehen möchte, dürfe man Russland nicht als Imperium des Bösen dämonisieren. Aber Russland ist doch ein Imperium, oder?

Martin Aust: Nein, Russland ist kein Imperium. Das ergibt sich aus dem Unterschied zwischen dem Russland seit 1991 und den älteren historischen Formationen - dem Zarenreich und der Sowjetunion. Russland hat, wenn man diese Perspektive einnehmen will, 1991 viele Territorien "verloren", die früher Teil des Zarenreiches und der Sowjetunion waren. Deswegen befindet sich Russland in meinen Augen in einer postimperialen Situation. Russland hat ein imperiales Erbe, ist aber kein Imperium.

Aber die russische Führung versucht, diese "verlorenen" Territorien wieder einzusammeln, die Krim zum Beispiel. Und da gibt es noch Südossetien, Abchasien, Transnistrien.

Diese Regionen haben einen sehr unterschiedlichen Status. Russland hat die Krim in den Bestand der Russischen Föderation aufgenommen. Im Westen sagen wir: Russland hat die Krim annektiert. Aber das unterscheidet sich sehr von dem Status, den beispielsweise Transnistrien oder Südossetien haben. Diese Regionen kann man schwer miteinander vergleichen. Man kann daraus auch kein Programm der Regierung in Moskau, das verlorene Imperium zurückzuerobern, herauslesen. Die Krim hat für Russland einen emotionalen Wert, den Transnistrien, Abchasien und Südossetien nicht haben. Wenn diskutiert würde, Transnistrien solle Teil der Russländischen Föderation werden, das würde nicht eine solch patriotische Begeisterung entfachen wie die Krim es 2014  in Russland getan hat. Ich denke, dass die russische politische Führung ausgesprochen situativ agiert und von Fall zu Fall improvisiert. Das schließt nicht aus, dass vielleicht in Zukunft Situationen entstehen, in denen auch andere Regionen wieder stärker an Russland angebunden werden.

Die ukrainische Halbinsel Krim wurde im Frühjahr 2014 von Russland annektiert

Sie schreiben in dem Buch, Putin habe sich 2014 verkalkuliert. Der Kreml habe nicht mit einer so scharfen und geschlossenen Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim und die Expansion in der Ostukraine gerechnet.

Wenn man Putins Projekt der Eurasischen Wirtschaftsunion zugrunde legt, dann war es doch ein ganz großer Wunsch, dass die Ukraine Teil dieser Union wird. Darin spiegelt sich das starke Bestreben Russlands seit 1991, die Verbindung zwischen der Ukraine und Russland so eng wie möglich zu halten. Die meisten ukrainischen Präsidenten haben das auch in einer Schaukelpolitik zwischen Russland und der Europäischen Union berücksichtigt. Doch die Zeit dieser ukrainischen Schaukelpolitik ist seit 2014 definitiv vorüber. Die Abgrenzung, die die Ukraine nun von Russland vornimmt, ist so stark wie nie zuvor. Damit hat Putin eigentlich genau die Situation geschaffen, die man in russischen Regierungskreisen immer befürchtet hat. Putin hat die Ukraine damit eigentlich endgültig verloren.

Dafür hat er aber Russland innenpolitisch konsolidiert.

Selbst das würde ich nicht sagen. 2014 hat es eine große nationale Mobilisierung gegeben, vielleicht noch beim ersten Jahrestag im März 2015. Aber seitdem kann ich keine größere patriotische Begeisterung mehr in Russland darüber erkennen, dass die Krim wieder Teil Russlands ist. Wenn es um den Staatshaushalt Russlands geht, kommen auch kritische Fragen: Wieviel der Bau der Infrastruktur kostet, die nötig ist, um die Krim an Russland zu binden? Wieviel die Sozialleistungen für die Menschen auf der Krim kosten und wie hoch die Kosten des nicht zugegebenen, aber erkennbaren Engagements Russland im verdeckten Krieg in der Ostukraine sind?

Am Ende Ihres Buches zeigen Sie Zukunftsszenarien auf. Was könnte nach Putin passieren?

Ich habe drei Szenarien beschrieben. Eines wäre die Fortsetzung des Krim-Szenarios. Demnach werden von Fall zu Fall weitere Regionen Russland hinzugefügt. Ein Thema, bei dem das immer wieder diskutiert wird, ist Belarus, das mit Russland ja schon in einer Union verbunden ist. Immer, wenn gemeinsame Manöver abgehalten werden und das russische Militär in Belarus sehr präsent ist, wird von den Medien die Frage in den Raum gestellt, ob Belarus der nächste Kandidat sein könnte, Teil der Russischen Föderation zu werden.

Wladimir Putins Amtszeit endet regulär im Jahr 2024Bild: picture-alliance/Russian Look/Kremlin Pool

Das entgegengesetzte Szenario wäre, dass die wirtschaftlichen Probleme zunehmen, dass sich die Ressourcen für die Politik verringern und dass es womöglich zu neuen Formen der Desintegration kommt. In einer Zeit nach Putin wäre die Macht unsicher, Regionalismen würden in Russland wieder viel stärker artikuliert werden, was womöglich den territorialen Bestand der Russischen Föderation in Frage stellen würde.

Ein anderes Szenario, das sozusagen zwischen diesen beiden liegt, wäre, die Zukunft der Russischen Föderation nicht mit Territorialfragen zu verknüpfen, sondern eine Neujustierung des politischen Systems in Russland zu versuchen. Ich denke, in der Zeit nach Putin erwartet Russland vor allem eine schwer abzuschätzende Konkurrenz um die Macht. Es wird schwierig werden, sich eine Figur vorzustellen, die Putin vollkommen Schutz und Immunität gewährt. Wie der Kreis aus ungefähr 100 Familien, die im Zirkel der Macht um Putin sind, eine Lösung finden soll, mit der eine Figur an die Stelle von Putin tritt, ist mir schleierhaft.

Das Gespräch führte Efim Schuhmann.

Martin Aust ist ein deutscher Historiker und Hochschullehrer. Er ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn.

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