Philosoph mit umstrittenem Weltruhm
26. September 2014Paris, Wien, Berlin? Das war nichts für Martin Heidegger. Der Philosoph zieht sich lieber auf seine einsame Berghütte auf 1200 Metern im Hochschwarzwald zurück. Dort gibt es noch nicht einmal eine Dusche – Heidegger mochte das einfache Leben. Von dem kleinen Ort Meßkirch, wo er am 26. Mai 1889 geboren wurde, zog er nach seinem Studium einige Jahre als Privatdozent nach Marburg und später nach Freiburg. Das Großstadtleben ist nicht seine Sache. In seinem Refugium auf der Hütte entwickelt er seine philosophischen Gedanken und eine weltbewegende Frage: Was ist die Bedeutung von Sein, etwa wenn ich sage: "Der Stuhl ist rot."?
Sein Hauptwerk ist die philosophische Schrift "Sein und Zeit" aus dem Jahr 1927. Darin behauptet er, dass sich das Sein in der menschlichen Existenz darin zeige, dass der Mensch im räumlichen Sinne "da oder in der Welt ist". Und da der Mensch in einem bestimmten Zeitraum "da ist" ist er auch in der Zeit, begründete Heidegger sein Gedankengebäude. Was das für unsere heutige Zeit bedeutet, kann der Philosoph und Heideger-Kenner Peter Trwny gut erklären: "Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass das Dasein oder der Mensch nicht isoliert für sich lebt, sondern dass er offen ist, offen für die Welt – und dass die Welt diese Offenheit ist, die er auch für seine Existenz braucht", sagt Trawny im DW-Interview. Dieser Ansatz von Heidegger beschäftigt noch heute Studenten und Philosophen weltweit und wirft nach wie vor neue philosophische Fragen auf.
"Mit Anderen in der Welt sein"
Heidegger sah sich damals mit seiner Philosophie in der Tradition seines Hochschul-Lehrers, des Phänomenologen Edmund Husserl. Er teilte dessen philosophisches Prinzip, "zu den Sachen selbst" zurückzugehen: "Hier sollte gedacht werden ohne irgendwelche Voraussetzungen und ohne irgendwelche Theorien, ohne Vorurteile, die den Zugang zu den Erscheinungen verdecken", erklärt Peter Trawny aus der Sicht von heute.
Mit der Frage nach dem Sinn des Seins stellte Heidegger eine Schlüsselfrage der Philosophie des 20. Jahrhundert, an die andere Philosophen anknüpfen konnten. "Heidegger hat eine Brücke geschlagen von der Antike bis zur Gegenwart, in der er Entwicklungen unseres europäischen Denkens angedacht und damit einen roten Faden gelegt hat durch die Geschichte des Denkens über 2500 Jahre. Das ist eine gewaltige Leistung", sagt auch der Literaturwissenschaftler Silvio Vietta, der Martin Heidegger noch persönlich kannte. Der Philosoph war ein Freund seiner Eltern. Vietta ist wegen Heidegger zum Studium nach Marburg gezogen.
Umstrittene Rolle in Nazi-Deutschland
Nach seinem Militärdienst im Ersten Weltkrieg machte der junge Heidegger rasant Karriere. 1933 wurde Heidegger Rektor der Universität Freiburg – anstelle seines zum Rücktritt gezwungenen Vorgängers Wilhelm von Möllendorf. Seine berühmt berüchtigte Antrittsrede sehen Kritiker als Beleg für Heideggers Sympathien mit der Ideologie des Nationalsozialismus. Später wurde ihm vorgeworfen, er habe maßgeblich zur Gleichschaltung der deutschen Universitäten beigetrage.
Peter Trawny beschreibt als Kern dieser Debatte die Frage, inwieweit das Weltbild der Nazis Heideggers Philosophie durchdrungen hatte. "Andere sind dagegen der Meinung, dass er die 'nationalsozialistische Revolution' als Anlass nutzen wollte, spezifische Vorstellungen, die er hatte, in die Universität einzuführen – also etwa wie ein platonischer Philosophenkönig, der nun die Möglichkeit hat, philosophische Ideen zu realisieren und damit gleichsam die Universität auch ein bisschen vor dem Nationalsozialismus zu schützen."
Peter Trawny hat im Frühjahr 2014 bislang unveröffentlichte persönliche Notizen Heideggers ("Schwarzen Hefte") heraus gegeben. Der jahrzehntelangen Debatte gab das aktuell nochmal neuen Schwung.
Kritik am Technikzeitalter
Literaturwissenschaftler Silvio Vietta verweist in diesem Zusammenhang auf die jüdischen Freunde und Schüler, die Heidegger hatte. Seine berühmteste Geliebte war die jüdische Philosophin Hannah Arendt, die Zeit ihres Lebens ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Beziehung hatte. Vietta hat den Philosophen als ernst und bodenständig kennengelernt, mit einem versteckten, "alemannischen", pfiffigen Humor, erzählt er im DW-Interview. "Ich habe 1968 geheiratet und was glauben Sie, hat mir Heidegger für ein Buch geschenkt? Es war "Nietzsches Wille zur Macht"! Als Hochzeitsgeschenk ist das eine ganz nette, ironische Sache." Heidegger habe auch gern Musik gehört, vor allem klassische Barockmusik, erinnert sich Vietta. Er hat den weltberühmten Philosophen oft im Hause seine Eltern erlebt.
"Wenn Sie mit Hans-Georg Gadamer gesprochen haben, hat er Ihnen in die Augen geschaut, Heidegger hat dagegen sehr oft ein bisschen visionär in die Ferne geblickt – er hat ja vielleicht auch noch ein bisschen mehr als Gadamer versucht, langfristige gesellschaftliche Perspektiven auszuloten." Insbesondere in seinen letzten Jahren habe sich Martin Heidegger viel mit den Auswirkungen der Technik und dem wissenschaftlichen, rechnenden Denken auseinandergesetzt. Vorausschauend sah er schon zu seiner Zeit die Folgelasten für unsere Gesellschaft voraus, vor allem im Atomzeitalter. "Es war ihm wichtig, die Brücke zu schlagen zwischen der Philosophie und unserem realen Leben", fügt der Literaturwissenschaftler Vietta hinzu.
Weltweite Rezeption
Heideggers philosophisches Grundlagenwerk wurde erstaunlicherweise auch von der nicht-akademischen Welt zur Kenntnis genommen, sagt Peter Trawny: "Vor allem was seine Spät-Philosophie angeht, hat er einen sehr schlichten Stil geprägt, bei dem er sich auch vorgenommen hat, ganz einfache Dinge zu sagen". Zum Beispiel habe er sich mit der Frage beschäftigt, was Gelassenheit ist: "Da ließe sich durchaus etwas zu irgendwelchen alternativen Lebensentwürfen sagen, also zum Beispiel ein ökologisch bewusstes Leben in einer spezifischen Landschaft – das sind so Dinge, die man mit Heidegger tatsächlich auch durchbuchstabieren kann."
Als Heidegger 1976 in Freiburg stirbt, hinterlässt er ein Lebenswerk, das die Welt noch heute beschäftigt: Die Bücher von Heidegger werden immer noch weltweit gelesen, unter anderem auch viel in Japan und den USA.