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Literatur

Martin Walser: "Ein fliehendes Pferd"

Sabine Kieselbach
6. Oktober 2018

Zwei Männer in der Midlife Crisis. Ein Machtkampf auf dem Bodensee. Und ein Finale, bei dem nicht der Abenteurer, sondern der Brave gewinnt. Martin Walser in Hochform.

Bild: picture-alliance/dpa/F. Kästle

Ein schmales Buch über zwei Männer in der Midlife-Crisis, wen soll das interessieren? Martin Walser erzählt in "Ein fliehendes Pferd" genau davon – und landet 1978 auf Anhieb einen Bestseller. Dabei ist die Novelle eigentlich nur als Lockerungsübung gedacht, nachdem er gerade einen größeren Roman abgeschlossen hat. "Rasch wegzischende Sommerarbeit" nennt Walser sein gut 150-Seiten-Buch, das er innerhalb von zwei Wochen niederschrieb. Und dann wird ausgerechnet das zum erfolgreichsten in seiner langen Karriere – in vierzig Jahren wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft.

Zwei Männer – zwei Welten

"Klaus Buch sagte, er sei so glücklich zu sehen, daß Helmut kein Kleinbürger geworden sei. Helmut dachte: Wenn ich überhaupt etwas bin, dann ein Kleinbürger. Und wenn ich überhaupt auf etwas stolz bin, dann darauf."

Zwei ehemalige Schulfreunde, beide Ende 40, treffen sich zufällig im Urlaub. Der eine, Helmut Halm, Lehrer, hat zwei erwachsene Kinder und sich längst mit seinem etwas langweiligen und ereignisarmen Leben an der Seite von Ehefrau Sabine abgefunden. Jeden Sommer verbringen die beiden am Bodensee, seit elf Jahren. Der andere, Klaus Bach, ist Journalist, verheiratet mit der jungen Helene, teurer Sportwagen, sportlich, ein Erfolgsmensch. Helmuts Widerwillen gegen die so empfundenen Eindringlinge ist groß, trotzdem treffen sich die beiden Paare mehrfach. Irgendwie fühlen sie sich doch voneinander angezogen.

"Ein fliehendes Pferd" von Martin Walser

02:12

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Während einer gemeinsamen Wanderung stürzt einmal ein ausgerissenes Pferd auf die Gruppe zu. Klaus gelingt es, das fliehende Tier einzufangen, und er erklärt vollmundig:

"Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muss das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ein fliehendes Pferd lässt nicht mit sich reden."

Wo Klaus einmal mehr seine Männlichkeit demonstrieren kann, identifiziert sich Helmut mit dem fliehenden Pferd. Eine hochsymbolische Szene.

Walser als Meister der Beobachtung

Klaus prahlt ständig mit seiner Potenz, Helmut fühlt sich daneben wie ein alter Mann. In "Ein fliehendes Pferd" zeigt sich Martin Walser als Meister der Beobachtung zweier Männer, die verschiedener nicht sein könnten. Zum Beispiel dann, wenn er die Ängste und Zweifel seines Anti-Helden Helmut beschreibt.

"Er hatte Angst, er könne seine Gewohnheiten gegen dieses Paar nicht verteidigen. Die griffen ihn ununterbrochen an. Beide. Die machten ihn fertig."

Natürlich wird am Ende alles ganz anders sein, als man denkt. Eine Beinahe-Katastrophe, und schon kommt die Wahrheit ans Licht. Klaus, der Potente, ist von Ängsten zerfressen, seine Ehe alles andere als modern und harmonisch. Und Helmut? Reist mit seiner Gattin ab, nach Frankreich. Kein neues Leben, aber endlich mal was Anderes.

Walsers Roman "Ein fliehendes Pferd" wurde 2007 mit Ulrich Tukur in der Rolle des Klaus verfilmtBild: Imago/United Archives

Die meisten Kritiker waren von "Ein fliehendes Pferd" begeistert. Die Novelle sei Walsers schönstes, sein reifstes Buch. Was für eine meisterhafte, böse Gesellschaftskritik!

Der Skandal

Martin Walser beginnt seine Karriere als Reporter, Regisseur und Hörspielautor. 1953 wird er Mitglied der legendären Gruppe 47 und setzt sich zusammen mit anderen Schriftstellern und Publizisten für ein neues, demokratisches Deutschland ein. Sein Name fällt in einem Atemzug mit seinen Zeitgenossen Günter Grass, Siegfried Lenz und Heinrich Böll.

Schon Ende der fünfziger Jahre hält sich Walser einige Monate in den USA auf, immer wieder reist er auf Einladung von amerikanischen Universitäten dorthin. Er ist auch dort ein kritischer Beobachter der politischen Verhältnisse. Alle seiner Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Und dann kommt der Skandal. 1998 spricht Walser in seiner Dankesrede zur Verleihung des renommierten Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von der "Instrumentalisierung des Holocaust".  Auschwitz als "Moralkeule". Eine aufgeregte Kontroverse folgt. Aber damit nicht genug, erscheint 2002 sein Roman "Tod eines Kritikers". Die zentrale Figur darin ist offensichtlich angelehnt an den jüdischen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki – und bedient, so die Kritik, etliche antisemitischen Klischees. Walsers Ansehen sinkt auf einen Tiefpunkt, vor allem in den USA gilt er fortan als Persona non grata.

Martin Walser lebt am Bodensee, der auch in vielen seiner Romane Handlungsort istBild: picture-alliance/chromorange/L. Wurster

So ganz hat sich Martin Walser davon nie mehr erholt. Aber mittlerweile ist er ruhiger geworden. Milder. Und er schreibt immer noch jedes Jahr ein neues Buch. Viele seiner Romane, Tagebücher und Erzählungen landen weiter auf den Bestsellerlisten. Aber der Erfolg von "Ein fliehendes Pferd" bleibt unerreicht.

 

Martin Walser: "Ein fliehendes Pferd" (1978), Suhrkamp Verlag

Martin Walser (geb. 1927) ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation. Seine Bücher: Mentalitätsstudien der Bundesrepublik. Seine Helden: Scheiternde, Zweifelnde. Walser hat über 20 Romane und etliche Novellen, Erzählungen, Essays und Tagebücher veröffentlicht. Seine wichtigsten Werke: "Ehen in Philippsburg" (1957), "Die Verteidigung der Kindheit" (1991), "Ein springender Brunnen" (1998).

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