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Massaker von Odessa: Schauder unter dem Asphalt

22. Oktober 2018

In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1941 wurde in Odessa in der Ukraine ein Massaker verübt - ein Verbrechen, das lange totgeschwiegen wurde. Eine Initiative aus Deutschland soll das ändern.

Holocaust Odessa Mahnmal/Gedenkveranstaltung
Bild: DW/L. Sydorsky

Das Massaker von Odessa

02:22

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Mitte Oktober 2018 wurde Schalimovka, ein Neubaugebiet am Rande von Odessa, zum Ort eines außergewöhnlichen Ereignisses. Die Botschafter Deutschlands und Rumäniens hatten sich eingefunden, die Verbände der Holocaust-Opfer reisten an, eine Ansprache der deutschen Bundeskanzlerin wurde verlesen, der Bremer RathsChor sang und ein Rabbiner sprach ein Kaddisch für die Menschen, die in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1941 an diesem Ort starben.

Eine Gedenkveranstaltung, die, wie viele andere, an die unzähligen Verbrechen der Naziherrschaft erinnert? Nicht ganz. Denn das "Massaker von Odessa", vor allem verübt an jüdischen Zivilisten, gehört zu den "weißen Flecken" in der Erinnerungskultur des Westens. Rumänische und deutsche Besatzer, auch ukrainische Kollaborateure, vernichteten über 30.000 schutzlose Leben - Frauen, Kinder, Kriegsgefangene. Und keiner hat sich jemals zur Verantwortung bekannt - bis jetzt, 77 Jahre nach der Tragödie.

Marieluise Beck im Gespräch mit der DW im Oktober 2018 in OdessaBild: DW/N. Vlasenko

Vergessene Tragödie: Massaker von Odessa

Marieluise Beck möchte den Zustand ändern. Mit ihrem "Zentrum Liberale Moderne" hat die ehemalige Sprecherin der Grünen für Osteuropapolitik nicht nur die Veranstaltung organisiert, sondern auch die offizielle deutsche wie rumänische Seite dazu bewegt, zu ihrer Verantwortung zu stehen. Dass der deutsche und der rumänische Botschafter nun gemeinsam am Ort des Grauens erscheinen, ist eine längst überfällige Geste. Und eine Sensation.

Die organisatorisch extrem aufwendige Initiative ergab sich aus einer persönlichen Erfahrung. "Die Idee entstand vor einem Jahr, als ich zu meinem Entsetzen erfuhr, dass ich von dem sogenannten 'kleinen Babi Jar' in Odessa nichts wusste", berichtet die Politikerin. Sie kam eigentlich in Begleitung des Bremer RathsChors, der mit der Philharmonie von Odessa ein erfolgreiches musikalisches Joint Venture betreibt. Zufällig verliefen sich die Musiker und ihre Begleiterin in einen Hinterhof zu einem Holocaust-Museum, das von ehrenamtlichen Aktivisten geleitet wird. Nach dem Besuch sahen sie die strahlende Stadt Odessa mit anderen Augen. Marieluise Beck schrieb an die Kanzlerin und erhielt prompt ihre Unterstützung.

Der Bremer RathsChor begleitete die Gedenkveranstaltung musikalischBild: DW/N. Vlasenko

Was im Oktober 1941 in Odessa geschah

"Alles ist penibel dokumentiert", sagt Pavel Kozlenko. Der 48-jährige Jurist leitet ehrenamtlich das 2009 gegründete Holocaust-Museum von Odessa. 

Am 16. Oktober 1941 wird Odessa nach zweieinhalb Monaten erbitterter Schlacht von der Roten Armee aufgegeben. Rumänische Truppen, verstärkt durch die deutsche Wehrmacht, marschieren in die Stadt ein - die "Perle am Schwarzen Meer" ist ein strategisch wichtiger Stützpunkt. 250.000 Einwohner halten sich noch in Odessa auf, 90.000 von ihnen sind jüdisch.

Am Abend des 22. Oktober geht um 18:45 Uhr im rumänischen Hauptquartier in der Marazlijewskaja-Straße im Herzen der Stadt eine Bombe hoch, die vermutlich noch vor der Aufgabe der Stadt deponiert wurde. 67 Menschen sterben, darunter 16 rumänische und vier deutsche Offiziere. Rache wird angekündigt: Für jeden toten Offizier sollen 200 "Bolschewiken" hingerichtet werden, für jeden Soldaten 100. Das Problem: Es gibt in der besetzten Stadt keine "Bolschewiken" mehr, und auch sonst kaum erwachsene Männer, mal abgesehen von den 3000 Kriegsgefangenen. Die Männer von Odessa sind längst bei der Armee oder bei den Partisanen. Die Rache wird an den jüdischen Zivilisten geübt.

Das eigentliche Massaker vollzieht sich in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober. In neun leerstehende Munitionslager am Stadtrand werden bis zu 30.000 Menschen eingesperrt: 3000 Kriegsgefangene und viele jüdische Zivilisten. Der Versuch, sie zu erschießen, scheitert. Die Menschen stehen zu eng. Um sie zu vernichten, werden die Gebäude mit Benzin übergossen und angezündet.

"Eine nach dem Krieg einberufene Sonderkommission hat Pfeile in den Boden getrieben und das Gelände abgemessen. Mit Hilfe der mit Knochen vermengten Asche wurde die Zahl der Opfer errechnet", erzählt Museumsleiter Kozlenko. In den Wochen und Monaten nach dem Massaker kommt es in Odessa und im ganzen Gebiet Transnistrien zu weiteren "Säuberungsaktionen".

Holocaust in der Ukraine  

Pavel Kozlenko zeigt stolz die zahlreichen Exponate seines kleinen Museums, die von Freiwilligen zusammengetragen wurden. Staatliche Unterstützung gibt es kaum: "Man stört uns nicht bei unserer Arbeit, aber man hilft uns auch nicht." Schon lange braucht das Museum ein neues Gebäude - das alte ist baufällig und droht einzustürzen.

Pavel Kozlenko (links) mit dem Holocaust-Überlebenden Mikhail Zaslawsky: Die Karte im Hintergrund zeigt, wo die Hinrichtung von jüdischen Bürgern in Transnistrien stattfandenBild: DW/L. Sydorsky

Aus der Sicht von Pavel Kozlenko fehlt es in der Ukraine an einer zentral gesteuerten "Erinnerungspolitik" in Bezug auf den Holocaust. Kein staatliches Museum erinnert an die über 1,5 Millionen jüdischen Opfer, keiner kümmert sich offiziell um die zahlreichen Denkmäler - errichtet von den Überlebenden nach dem Krieg. Überwiegend in privater Initiative haben Historiker und andere engagierte Bürger mehr als 1500 Hinrichtungsorte in der Ukraine identifiziert. Meist wurden die Opfer anonym direkt an Ort und Stelle verscharrt. "Diese Orte liegen meistens nicht im Zentrum der Städte und Dörfer, sondern am Rande", sagt Pavel Kozlenko. "Mal war es ein Schweinestall, mal eine stillgelegte Fabrik am Stadtrand."

Erschießung als Tötungsmethode

Aus seiner Sicht wäre die Pflege solcher Orte die Aufgabe des ukrainischen Staates: "Die Ukraine hat den Holocaust immer noch nicht als einen Teil ihrer eigenen Geschichte, als Tragödie von ukrainischen Bürgern anerkannt."

Kozlenko beruft sich auf Timothy Snyder. Der US-amerikanische Historiker und Holocaust-Forscher weist darauf hin, dass die Shoa in der öffentlichen Wahrnehmung zum Synonym für die industrielle Vernichtung in Konzentrationslagern mit Verbrennungsöfen geworden ist. "Holocaust durch Erschießung", wie er vielfach in den osteuropäischen Schtetl von SS und Polizeibataillonen ausgeübt wurde, bleibe ein weißer Fleck - im Westen wie im Osten. Außerdem gab es im Gegensatz zu den KZs kaum Überlebende und damit kaum Überlieferungen. "In der Sowjetzeit wurde die Erinnerungslandschaft zusätzlich platt gemacht", sagt Kozlenko. "Es wurden keine Juden ermordet, sondern Sowjetbürger." Auch sein Urgroßvater verbrannte in den Munitionslagern bei Odessa im Oktober 1941 - "als Sowjetbürger, aber weil er Jude war."

Ort des Grauens: Kaum etwas erinnert heute noch an die TragödieBild: DW/O. Vlasenko

Eine Gedenkveranstaltung wie sonst keine

Kinderspielplätze, Plattenbauten, Schrebergärten - nicht mehr und nicht weniger als ein kleines Denkmal erinnert heute in Schalimovka daran, was in diesem Ort vor 77 Jahren geschah. Anders als in Auschwitz gibt es keine Berge von Kinderschuhen oder Brillen. Dennoch: "Wer mit dem Herzen offen ist, der spürt, dass an diesem Ort unter dem Asphalt ein Schauder verborgen ist", sagt Marieluise Beck. "Deutschland muss ein Zeichen setzen im Sinne der Übernahme einer historischen Verantwortung, die hier eigentlich nur eine Bitte um Vergebung sein kann, denn es gibt keine Wiedergutmachung."

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