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PolitikAfrika

Yumbi-Massaker: Zähes Hoffen auf Gerechtigkeit

Jonas Gerding Kinshasa
17. Dezember 2021

Vor genau drei Jahren wurden mehr als 500 Menschen in einer sonst friedlichen Gegend des Kongo massakriert. An einem Militärgericht hat nun ein hochpolitischer Prozess begonnen. Die Wahrheitsfindung ist mühsam.

Angeklagte im Yumbi-Prozess, Demokratische Republik Kongo (Foto: Jonas Gerding)
79 Angeklagte müssen vernommen werden: Prozess im Hof des Militärgefängnisses von Ndolo, KinshasaBild: Jonas Gerding/DW

Seine Frau, seine vier Kinder, das Leben seiner Liebsten - das könne ihm niemand zurückbringen, sagt Clovis Boyanga. Als müsse er sich noch heute schützen, sitzt der 31-Jährige mit steif verschränkten Armen und nach vorne gebeugtem Kopf auf einem Plastikstuhl in einem Hinterhof im Viertel Limete in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Genau drei Jahre ist es her, am 16. und 17. Dezember 2018, als Männer der Ethnie der Batende mit Macheten, Speeren und Gewehren in seinem Heimatdorf von Haus zu Haus zogen, um jeden zu töten, den sie als Angehörigen der Banunu ausmachten. 

Clovis überlebte, weil er am Morgen des Angriffs nicht daheim war. Aber der Rest seiner Familie, darunter auch ein Neffe, wurde von den Angreifern abgeschlachtet. Nichts könne das wieder gut machen. Dennoch verspürt er in diesen Tagen auch ein klein wenig Hoffnung. Nur wenige Kilometer entfernt, im Gefängnis von Ndolo, hat in diesem Jahr ein lang erwartetes Gerichtsverfahren zu dem Massaker von Yumbi begonnen. "Ich denke, dass der Prozess es uns ermöglichen wird, Antworten auf unsere Fragen zu finden. Nur der Staat und die Justiz können die politischen Verantwortlichen hinter diesem Massaker in Erfahrung bringen", sagt Boyanga.

Er wird nicht nach Yumbi zurückkehren: Clovis Boyanga hat seine ganze Familie bei den Massakern verlorenBild: Jonas Gerding/DW

Ein Prozess mit vielen Fragezeichen

Bis heute ist vieles ungeklärt. Die Vereinten Nationen gehen gesichert von 535 Toten in nur drei Dörfern zwischen dem 16. und 18. Dezember aus, 345 allein in Boyangas Dorf Bongende, wahrscheinlich sind es jedoch weitaus mehr. Insbesondere die Gründe für den scheinbar unvermittelten Gewaltausbruch sind umstritten. Das Territorium Yumbi liegt am Kongo-Fluss in der Provinz Mai-Ndombe, viele hundert Kilometer entfernt vom anhaltenden Bürgerkrieg im Osten des Landes. Eine Region, in der offiziell Frieden herrscht.

Das Hohe Militärgericht in Kinshasa spricht in seiner Anklageschrift deshalb auch nicht von einem Kriegsereignis, sondern einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" im Rahmen des internationalen Rechts, definiert als eine "Handlung, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wird". Am 25. Mai dieses Jahres begann das Gericht den Prozess, verschob ihn jedoch sogleich und lud erst wieder im November zur Anhörung.

Ein Mammutprozess kündigt sich an

26. November, 11:55 Uhr, hinter den Gefängnismauern von Ndolo: 79 Personen sind angeklagt, alles Männer. Sie sind als Gefangene erkennbar anhand der weiten blauen Shirts mit gelben Streifen. Nacheinander laufen sie über den Rasen, vorbei an einem bewaffneten Soldaten, wo sie hinter einer Absperrung, unter dem Dach eines großen und zu den Seiten offenen Zeltes, das als Gerichtssaal fungiert, auf Stühlen Platz nehmen.

Der oberste Richter, in Tarnfarben gekleidet, wird an diesem Mittag drei der Angeklagten vor sich an ein Holzpult zitieren und befragen. Dabei wird es viel um Details gehen, die abgetrennte Hand eines Opfers beispielsweise, die damals einem Dorfchef vorgelegt wurde. Stück für Stück will das Gericht so der Wahrheit näher kommen und klären, wer das Massaker plante, wer es ausführte, wer erst im Nachhinein davon erfuhr.

Das Militärgericht muss auch herausfinden, inwiefern die Massaker politisch motiviert warenBild: Jonas Gerding/DW

Das zeigt, welch ein Mammutprozess da auf alle zukommt. Jahre könnte sich das noch hinziehen. Acht Personen sind es allein, die namentlich als mutmaßlich Verantwortliche für die Morde genannt werden.

Darunter sind der Chef eines Verwaltungsbezirks, ein Mann des Geheimdienstes - und zwei Männer mit ehemals hohen Posten in der Provinzverwaltung: der stellvertretende Direktor des Kabinetts des damaligen Innenministers und der Direktor des Kabinetts des damaligen Gouverneurs von Mai-Ndombe. Der einstige Gouverneur, Gentiny Mbaka Ngobila, ist selbst nicht angeklagt. Er ist heute Gouverneur von Kinshasa.

Der Prozess ist hochpolitisch. Auch, weil das Massaker eine Woche vor den geplanten Wahlen für die Präsidentschaft und die Parlamente auf Provinz- und Nationalebene verübt wurde. Die Wahlkommission verschob den Urnengang schließlich um eine Woche - in Yumbi sogar um drei Monate. Die beiden Verantwortlichen der Provinzverwaltung erlangten anschließend Sitze im nationalen und im Provinzparlament - und müssen im Gegensatz zu den meisten anderen Angeklagten nur zu den Gerichtsanhörungen im Gefängnis erscheinen.

Welche Rolle spielen die Wahlen?

Die Batende begannen des Massaker einen Tag, nachdem die Banunu ihren traditionellen Anführer in der Stadt Yumbi beerdigt hatten - dem Vorwurf nach mitten in der Nacht auf dem Gebiet der Batende, die dies als Affront in einem lang anhaltenden Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen sahen.

Claude Kaniekete Boba ist einer der Anwälte eines Kollektivs, das die Opfer vertritt. "Das traditionelle Oberhaupt beerdigt man immer in der Nacht. Außerdem war das neben seinem Vater, seinem Vorgänger", sagt Kaniekete über die Umstände, die er als gewöhnlich betrachtet: "Das soll wirklich ein Grund sein, die Banunu zu massakrieren?"

Claude Kaniekete vertritt die Opfer in dem ProzessBild: Jonas Gerding/DW

Kaniekete zufolge haben die Batende das Massaker aus langer Hand geplant. "Was muss man machen, um die Wahlen zu gewinnen?", fragt der Anwalt. Im Kongo wird oft entlang ethnischer Linien gewählt. Es wäre also denkbar, dass die Dezimierung einer Gruppe darüber entscheidet, welcher lokale Kandidat die meisten Stimmen holt. "Damit hat alles angefangen", zeigt er sich überzeugt. Belege legt er allerdings keine vor und verweist darauf, dies aus taktischen Gründen erst im Rahmen des Prozesses machen zu können.

Ein lang anhaltender Konflikt

Alain Nsele Ngomba koordiniert die Anwälte der Verteidigung. Das Motiv eines Wahlsieges durch ein Massaker weist er zurück. "Den Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen gibt es nicht erst seit gestern", sagt er und führt Gewaltausbrüche in den Jahren 1963, 2006 und 2011 an. Er verweist auch darauf, dass es während der Tage der Massaker auch Tote auf Seiten der Batende gegeben habe. Zahlen nennt er nicht. "Die beiden Gruppen sind gezwungen, miteinander zu leben. Die Verantwortlichkeiten müssen aufgeklärt werden", sagt Ngomba.

Alain Nsele Ngomba, Anwalt der Verteidigung (rechts), verweist auf die lange Geschichte des KonfliktsBild: Jonas Gerding/DW

Ob der Prozess die Grundlage für eine Versöhnung schaffen kann, ist derzeit noch offen. "Leider ist keiner der Angreifer, die ich identifiziert habe, im Gefängnis. Sie leben frei und unbehelligt auf ihren Feldern und in verschiedenen Dörfern", beklagt Boyanga, dessen Familie getötet wurde. Auch Kaniekete, der Anwalt der Opfer, vermisst einige Namen auf der Anklageliste, setzt aber nun alles daran, dass auch sie noch dem Haftrichter vorgeführt werden. "Das ist unser Wunsch!", sagt er.

Weiter Weg zur Versöhnung

Andernfalls müssten Opfer Repressalien fürchten, schätzt der Anwalt. So lasse sich die anhaltend desolate humanitäre Lage vor Ort nicht verbessern. Noch immer sind etwa Tausend Banunu nicht in ihre verwüsteten Dörfer zurückgegehrt und leben auf der anderen Seite des Kongo-Flusses in Flüchtlingslagern der benachbarten Republik Kongo.

Die Opfer fordern umfassende Kompensation und Hilfe beim Wiederaufbau. Auch Boyanga möchte entschädigt werden. Er trauert den Zeiten nach, in denen er mit seiner Familie vom Fischfang lebte, es zu Hochzeiten und Freundschaften zwischen den Batende und Banunu kam. "Nach allem, was passiert ist, habe ich die Entscheidung getroffen, mich aus meinem Dorf zurückzuziehen", sagt Boyanga, der nun in Kinshasa lebt, wo er sich mit Gelegenheitsjobs und Geld der Familie durchschlägt. "Ich möchte versuchen, die Grausamkeiten zu vergessen. Ich halte das Leid nicht aus, das diese Erinnerungen auslösen", sagt er.