Was Venedig sich nun vom Tourismus erhofft
16. Juni 2020Auf dem Markusplatz reißt eine Möwe einem kleinen Jungen das in Alufolie eingepackte Sandwich aus der Hand. Er lacht vor Schreck, seine Mutter zieht ihn weiter. Mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, derjenige zu sein, der von einem hungrigen Vogel das Essen geklaut bekommt, ist wohl einer der Nachteile, wenn man eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Venedigs mehr oder weniger für sich alleine hat.
Normalerweise drängen sich auf dem Markusplatz Menschen aus allen Ecken der Welt, manche gönnen sich einen überteuerten Kaffee in einem der Lokale oder ein Souvenir, auf dem der Schriftzug "Venezia" prangt. Andere zieht es in eines der renommierten Museen. Wieder andere schießen ein Selfie von sich.
Doch normal ist in Venedig gerade nichts. Wenn auch normaler als vor dem 3. Juni. Der Tag, seit dem EU-Bürger nicht mehr in eine zwei Wochen lange Quarantäne müssen, wenn sie nach Italien einreisen.
Und auch das Datum, das wieder eine Art von Alltag einläuten sollte - nach harten Monaten und strengen Ausgangssperren. Italien war das Land, das als erstes in Europa von der Corona-Krise getroffen wurde. Und das Land, das besonders viele Tote zu beklagen hat.
Venedig konnte kurz Luft holen
Doch so schwierig die Lage war - und immer noch ist - COVID-19 hat Venedig eine kleine Atempause verschafft. Nach offiziellen Angaben übernachteten hier im vergangenen Jahr 12,5 Millionen Menschen, geschätzte 15 bis 16 Millionen schauten für einen Tagesausflug vorbei.
Viel zu viele, findet Jane da Mosto. Sie kommt an diesem Sonntagmorgen die Rialto-Brücke hochgelaufen. Einige wenige Touristen sind schon da, fotografieren die vor sich hindümpelnden Boote auf dem Canal Grande, der sich durch die Lagunenstadt schlängelt. Da Mosto ist in Südafrika geboren und lebt seit 25 Jahren in Venedig - mit ihrem Mann, einem Venezianer, und ihren vier Kindern.
Wenn da Mosto von ihrer Wahlheimat spricht, beschreibt sie sie als eine Zitrone, die von der Lokalregierung "ausgepresst" wird. Oder als Kuh, die "gemolken" wird. Mit ihrer Initiative "We are here Venice" kämpft sie gegen Kreuzfahrtschiffe, generell gegen Massentourismus, der aus ihrer Sicht den Charakter Venedigs zerstört. Besonders wütend macht sie, dass nur noch wenige Menschen in der Lagunenstadt leben wollen - oder können. Etwas mehr als 51.000 sind es im Moment. Für viele Vermieter sei es wesentlich lukrativer an Touristen zu vermieten, als an Familien mit normalem Einkommen.
Jane da Mosto fordert von der Lokalregierung, Anreize zu schaffen, damit Venezianer in anderen Branchen außerhalb des Tourismus Jobs finden können. "Meine vier Kinder lieben die Stadt und sie wollen hier eine Zukunft haben", sagt da Mosto.
Länger bleiben, mehr ausgeben
Nicolo Bortolato ist zwar - wie 65 Prozent aller Menschen, die in Venedig leben - von Besuchern abhängig, wünscht sich aber für sein Hotel eine ähnliche Zielgruppe wie Jane da Mosto für die Stadt. Menschen, die nach Venedig kommen, weil sie sich dafür interessieren, eintauchen wollen in die jahrtausendealte Geschichte.
Vor zehn Jahren hat Bortolato zusammen mit anderen den in Venedig bekannten Palazzetto Pisani in ein Hotel umfunktioniert. Wer hier absteigt, bezahlt nicht nur für Bett und Frühstück, sondern bekommt venezianisches Flair mitgeliefert. Überall hängen Gemälde, es gibt einen Salon mit alten Holzmöbeln, wo Gäste zusammensitzen und plaudern können.
Es ist diese Art von Tourist, der es sich leisten kann, ein paar Euro mehr auszugeben, die sich viele in Venedig wünschen.
Selbst diejenige, die in Venedig dafür verantwortlich ist, möglichst viele Besucher in die Stadt zu locken, sagt, dass es nicht wie vorher weitergehen kann. Paola Mar, die Beauftragte für Tourismus der Lagunenstadt, steht auf einer der zahlreichen Brücken Venedigs. Eigentlich wollte sie im Juli Eintrittsgebühren einführen, doch dann kam Corona und nun wird sich alles verzögern.
Mar wohnt auf dem Festland. Ihre Kritiker sagen, die Tourismus-Beauftragte verstehe gar nicht, wie es sei, sich auf dem Weg zur Arbeit durch Menschenmassen drängen zu müssen oder jeden einzelnen Tag aufgeschreckt zu werden, von Airbnb-Gästen, die an Türen wummern, weil sie sich in der Wohnung geirrt haben.
Venedig hat auch mit anderen Problemen zu kämpfen
Wenn man Paola Mar auf eine Obergrenze für Touristen anspricht - wie sie etwa Aktivistin da Mosto fordert - wird ihre Stimme lauter, fast ein bisschen wütend. Wie solle das umgesetzt werden? Mar will vielmehr auf obligatorische Reservierungen setzen, um die Touristenmassen in der Zukunft unter Kontrolle zu bekommen.
Vielen Venezianern ist das nicht genug. Ihre Stadt leidet nicht nur unter zu vielen Besuchern, sondern auch darunter, dass die Fundamente sinken. Erst im November legte ein Hochwasser Venedig lahm und richtete in vielen Häusern immensen Schaden an.
Auf dem Canal Grande zeigt Marco, ein Gondoliere, wie hoch das Wasser damals reichte. Er gehört zu denen, die vom Tourismus profitieren und jetzt besonders von der Krise betroffen sind. Von seinen mehr als 400 Kollegen seien im Moment immer noch viele arbeitslos. Er hoffe, dass die Besucher bald zurückkommen, sagt er.
Ähnlich sieht es Hossein Ismail, Manager des Cafés Aurora am Markusplatz. Er plaudert mit den Kollegen, schlendert zwischen den türkisenen Stühlen hin und her. Alle sind leer, bis sich irgendwann zwei Frauen aus Deutschland setzen und sich über die Vaporettos beschweren: Die venezianischen Wasserbusse seien schon wieder überfüllt.