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Massenüberwachung: BND unter Druck

12. Januar 2021

Deutschlands Geheimdienst durchsucht jährlich Hunderte Millionen E-Mails. "Reporter ohne Grenzen" wehrt sich dagegen, seit Jahren. Inzwischen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Protestler mit Plakat Big Data Big Brother am 05.09.2015 während der Demonstration unter dem Motto Bueger legen BND an die Kette vor dem Neubau der Zentrale vom Bundesnachrichtendienst BND in der Chausseestrasse in Berlin-Mitte.
Klagen und Protest von Bürgerrechtlern, wie hier vor BND-Zentrale in Berlin, ist der Geheimdienst gewohnt Bild: Imago/IPON

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz im französischen Straßburg tut jetzt das, was die deutsche Justiz noch 2016 abgelehnt hat: Er befasst sich mit einer Beschwerde von "Reporter ohne Grenzen"(ROG) gegen fehlenden Rechtsschutz bei der anlasslosen Massenüberwachung der Telekommunikation durch den Bundesnachrichtendienst (BND). Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hatte das Anliegen der weltweit aktiven Journalisten-Organisation mit der Begründung abgelehnt, ROG könne seine Betroffenheit nicht nachweisen.

Das Verfahren auf europäischer Ebene biete nun die Chance, "diesen rechtsstaatlich unhaltbaren Missstand endlich abzustellen", freut sich ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. Seine Zuversicht stützt sich auf das BND-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020. Demnach ist die vom deutschen Auslandsgeheimdienst praktizierte sogenannte strategische Fernmeldeaufklärung weder mit dem Menschenrecht auf Privatsphäre noch mit der Pressefreiheit vereinbar.

Merkels Sprecher vermeidet Bewertung

Zunächst aber ist die Bundesregierung am Zug. Bis Anfang März hat sie noch Zeit, sich mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gütlich zu einigen. Anschließend blieben ihr zwölf Wochen Zeit, um inhaltlich zur Beschwerde Stellung zu nehmen.

Nach Ablauf dieser Frist müsste das Gericht entscheiden, ob es eine mündliche Verhandlung zulässt. Derweil sagte Regierungssprecher Steffen Seibert auf DW-Anfrage, die Beschwerde werde noch geprüft. Deshalb bittet er um Verständnis, "dass ich mich zu Details des Verfahrens oder der Beschwerde nicht äußern kann".

Futuristische Architektur: der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte in StraßburgBild: picture-alliance/Winfried Rothermel

Im Zentrum der 20-Seiten umfassenden Beschwerde steht das in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. Das darf nur in gravierenden Ausnahmefällen im Rahmen des sogenannten G10-Gesetzes beschränkt werden. Im Kern dient dieses Gesetz dem Schutz Deutschlands vor bewaffneten Angriffen oder Terroranschlägen sowie vor Cyberattacken, zudem dem Kampf gegen grenzüberscheitende Verbrechen wie Drogenhandel, Geldfälschung und Schleuserkriminalität.       

Anlasslose Massenüberwachung

Dass der BND dafür im begründeten Einzelfall auch Grundrechte beschränken darf, leuchtet auch "Reporter ohne Grenzen" ein. Allerdings hält die Journalisten-Organisation die dafür vom Gesetzgeber bereitgestellten Mittel für zu weitgehend. Denn faktisch findet durch das Anzapfen von Knotenpunkten der Internetkommunikation eine anlasslose Massenüberwachung statt. Dabei werden verdächtige Suchbegriffe, sogenannte Selektoren, eingespeist. Auf diese Weise durchforstet der BND Hunderte Millionen von E-Mails nach aus seiner Sicht verdächtigen Informationen.

Überwachungsobjekt der BND-Begierde: Internet-Knotenpunkte Bild: picture-alliance/dpa/A. Arnold

Innerdeutsche Kommunikation, auf die der Auslandsnachrichtendienst laut Gesetz keinen Zugriff haben darf, wird angeblich automatisiert herausgefiltert. Wie das funktionieren soll, konnte der BND bislang nicht plausibel darlegen. Schon die Frage nach der tatsächlichen Identität einer Mail-Adresse des global genutzten Google-Accounts bringt ihn in Erklärungsnot – der Account endet auf "com". Auch die elektronische Adresse der Deutschen Welle lautet so. Und beim deutschen Auslandssender mit Angeboten in rund 30 Sprachen arbeiten Menschen aus mindestens doppelt so vielen Ländern.

"Reporter ohne Grenzen" verlangt Auskunft vom BND

Allein dieses Beispiel legt die Vermutung nahe, dass ein fehlerloses Filtern der Massenüberwachung kaum zu gewährleisten sein dürfte. Ob und wie viele Menschen ohne ihr Wissen ins Visier des BND geraten, ist jedoch noch immer ein Geheimnis. Und exakt da setzt "Reporter ohne Grenzen" mit seiner Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an. Ob überhaupt jemals eine betroffene Person von ihrer gezielten oder zufälligen Überwachung erfahren hat, zweifelt ROG in der Beschwerdeschrift an: "Jedenfalls hat es in den letzten 40 Jahren in Deutschland keinen einzigen Fall gegeben, in dem die Maßnahmen des BND aufgrund einer solchen Benachrichtigung gerichtlich überprüft worden sind." 

RoG Geschäftsführer Christian Mihr hat die Pressfreiheit weltweit im BlickBild: Reporter ohne Grenzen/Schler

Der weitaus größte Teil der Betroffenen erfahre nicht einmal im Nachhinein, dass ihre E-Mails erfasst und durchsucht wurden, kritisiert "Reporter ohne Grenzen". Die Öffentlichkeit werde in Form der jährlichen Berichte des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) des Bundestags immer erst dann über die Überwachungsmaßnahmen informiert, wenn deren Protokolldaten schon gelöscht seien. Auf diese Weise muss der BND Mails dokumentieren, die bei näherer Prüfung als nicht "nachrichtendienstlich relevant" aussortiert wurden. 

Geheimdienst-Kontrolleur André Hahn freut sich

Der Linken-Abgeordnete André Hahn, Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums, hält die Beschwerde für einen "wichtigen Schritt".  Mit der Annahme durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte werde die Praxis deutscher Gerichte, Klagen gegen die massenhafte Überwachung des Internetverkehrs durch den BND immer wieder aus rein formalen Gründen zurückzuweisen, nun selbst einer Prüfung unterzogen. "Eine juristische Aufarbeitung der Überwachungspraxis des BND am weltweit größten Internetknoten in Frankfurt am Main ist längst überfällig", erklärte Hahn gegenüber der DW.

Geheimdienst-Kontrolleur Hahn: "Juristische Aufarbeitung längst überfällig"Bild: picture-alliance/dpa/A. Burgi

Sollte ROG vor dem Gerichtshof in Straßburg Erfolg haben, müsste der BND künftig die von Überwachung Betroffenen nachträglich informieren. Davon geht die Journalisten-Organisation jedenfalls aus. Dann hätten sie erstmals die Möglichkeit, rechtlich gegen ihre Ausspähung vorzugehen. Das wäre aus Sicht von "Reporter ohne Grenzen" eine über die Grenzen Deutschlands hinaus wirkende Botschaft.

Es begann mit Edward Snowdens NSA-Enthüllungen

Die "ausufernde Überwachungspraxis" des BND stelle nicht nur den Quellenschutz als zentrales Element der Pressefreiheit in einer Demokratie in Frage. Auch die Glaubwürdigkeit deutscher Forderungen nach mehr Achtung der Medienfreiheit in autoritären Regimen werde untergraben "und beraubt dortige Journalistinnen und Journalisten somit eines Fürsprechers in ihrem Kampf gegen Überwachung und andere Arten der Repression".

Hightech für die "strategische Fernmeldeaufklärung": Radarkuppeln des BND Bild: picture-alliance/dpa/A. Warmuth

Dass man in der Vergangenheit selbst schon Opfer unzulässiger BND-Überwachung geworden ist, daran kann es für "Reporter ohne Grenzen" kaum Zweifel geben. Als Beleg verweist die Organisation in ihrer Beschwerde auf Zahlen aus dem Jahr 2013. Damals enthüllte der Whistleblower Edward Snowden, wie der US-Geheimdienst National Security Agency (NSA) weltweit das Internet ausspioniert. Zu diesem Zeitpunkt hatte die NSA eine Art Zweigstelle in der BND-Abhörstation in Bad Aibling.

"Meilenstein für Bürgerrechte"

Für das Jahr 2013 ist im Jahresbericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums von 12.523 Suchbegriffen die Rede, mit denen hunderte Millionen Mails auf verdächtige Inhalte gescannt wurden. Darunter waren 15.401 sogenannte "Treffer". Gemeint sind Mails, die der BND manuell überprüfen musste, weil er sie aus rechtlichen Gründen womöglich gar nicht hätte abfangen dürfen. Unter diesem "Beifang", wie solche Treffer im Geheimdienst-Jargon auch genannt werden, befanden sich am Ende lediglich 118 "nachrichtendienstlich relevante" Mails.

Strengere Regeln für BND: Gespräch mit Prof. Helmut Aust, Rechtswissenschaftler

03:50

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Aufwand und Ertrag hält ROG deshalb für "grob unverhältnismäßig". Und nach ihrer erfolgreichen Klage gegen die strategische Fernmeldeaufklärung des BND will die international vernetzte Journalisten-Organisation nun endlich wissen, ob und wie oft sie selbst von Ausspähung betroffen war. Um dann bei Bedarf weitere rechtliche Schritte einleiten zu können. Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zollt der Parlamentarische Geheimdienst-Kontrolleur André Hahn "Reporter ohne Grenzen" schon jetzt seinen höchsten Respekt: ROG habe mit seiner Beschwerde "erneut einen bedeutsamen Meilenstein für Bürgerrechte" gesetzt. 

 

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