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"Massenmord bringt Staaten zum Wanken"

Kersten Knipp15. Juli 2016

Das Attentat von Nizza setzt eine dschihadistische Strategie um, die seit längerem im Internet kursiert. Ziel ist, mit einfachen Mitteln ein Maximum an Menschen zu töten. Eine Möglichkeit: der Angriff mit Fahrzeugen.

Der Lastwagen des Attentäters in Nizza wird untersucht (Foto: Reuters/E. Gaillard )
Bild: Reuters/E. Gaillard

"Ihr habt keine Bomben? Kein Problem!". Welche Möglichkeiten Dschihadisten haben, auch mit primitivsten Mitteln Menschen zu ermorden, das rief Abou Mohammed Al-Adnani, der ehemalige Sprecher der Terrororganisation "Islamischer Staat", seinem Publikum im September 2014 per Videobotschaft in Erinnerung.

In dem Video machte er konkrete Vorschläge zur Vorgehensweise: "Wenn ihr keinen Sprengstoff oder keine Munition findet, dann isoliert einen ungläubigen Amerikaner, einen ungläubigen Franzosen oder sonst einen ihrer Alliierten. Zerschmettert ihm den Kopf mit einem Stein, tötet ihn mit einem Messer, fahrt ihn mit eurem Wagen um, schmeißt ihn von irgendwo herunter, erstickt ihn oder vergiftet ihn."

So legte es Al-Adnani, mit bürgerlichem Namen Taha Subhi Falaha, den Zuschauern seines Videos ans Herz. Die Anweisungen des 1977 oder 1978 in der syrischen Region Idlib geborenen Terroristen sind nicht nur ein Zeichen persönlicher Verrohung. Sie greifen ganz bewusst eine Strategie "kleinteiliger" Terroranschläge auf, die seit 2005 im Netz zirkuliert.

Terrorzelle in Afghanistan

Wie aktuell diese Strategie ist, zeigt der Anschlag von Nizza. Erstmals formuliert hat diese Anweisung Al-Adnanis Landsmann Mustafa ibn Abd al-Qadir Setmariam Naser. Der vermutlich 1958 geborene Syrer mit dem Kriegsnamen Abu Musab al-Suri kämpfte einst in Afghanistan auf Seiten der Mudschahedin gegen die Rote Armee.

Dort lernte er unter anderem Osama bin Laden kennen. Zurück in Europa, half Al-Suri („der Syrer“), das dortige dschihadistische Netzwerk zu knüpfen. Wesentlichen Anteil hatte er vermutlich an der Gründung der spanischen Al-Kaida-Fraktion – eben jener, die im März 2003 mehrere Vorortzüge in Madrid in die Luft sprengte.

Verbindungen werden Al-Suri auch zu jenen Terroristen nachgesagt, die 2005 den Anschlag auf die Londoner U-Bahn mit verübten. Noch im selben Jahr wurde er in Pakistan verhaftet, später nach Syrien ausgeliefert. Seine Spur verliert sich in den Gefängnissen des Assad-Regimes.

Erfinder des "kleinteiligen" Terrors: Abu Musab al-Suri (re.), hier mit Osama mit Bin Laden (li.)Bild: gemeinfrei

Nach der Veröffentlichung 2004 / 2005 im Internet avancierte Al-Suris Strategie mit dem Titel "Aufruf zum globalen islamischen Widerstand" (Da'wat al-muqawamah al-islamiyyah al-'alamiyyah) zum dschihadistischen Leitfaden. Darin beschuldigt er die "amerikanisch-jüdischen Kreuzfahrer", die islamische Welt gezielt zu zerstören. Dies geschehe durch die "Verbreitung einer Kultur des Verfalls, der Verderbtheit, des Ehebruchs, der Nacktheit, der Vermischung der Geschlechter und anderer Arten sozialer Korruption."

"Entgrenzter Krieg"

Als Reaktion auf diesen angeblichen Verfall empfiehlt Al-Suri den sogenannten "entgrenzten" Krieg, den seine Schrift im Titel führt. Ziele gebe es viele, und zwar unterschiedlichster Art: Politiker und Militärs; Flughäfen und Häfen, Bahnhöfe, Brücken, Autobahnkreuze, dazu U-Bahnen und touristische Ziele.

Auch Militärbasen und Computerzentren könne man angreifen; aber auch "weiche" Ziele wie Medienunternehmen und deren Repräsentanten. Ebenfalls von Interesse seien "Plätze, an denen sich Juden versammeln, sowie führende jüdische Persönlichkeiten und jüdische Institutionen". Ausgenommen seien Orte der Andacht und Synagogen.

Die "Gegenwehr" muss laut Strategie in aller Härte durchgeführt werden: "Der Massenmord an der Zivilbevölkerung ist die Art von Angriff, die Staaten und Regierungen ins Wanken bringen kann. Dies geschieht, indem man Menschenansammlungen attackiert, mit denen man ein Maximum an menschlichen Verlusten herbeiführt."

Vergeltungsanschlag? Nach der Ermordung des britischen Soldaten Lee Rigby im Mai 2013 nimmt die Zahl der Angriffe auf islamische Zentren in England zuBild: picture-alliance/dpa

Das sei einfach, versichert Al-Suri, denn es gebe viele solcher Ziele. "Zum Beispiel volle Sportarenen, einmal im Jahr stattfindende soziale Ereignisse, große internationale Ausstellungen, volle Marktplätze, Wolkenkratzer, Gebäude mit vielen Menschen."

Es ist exakt das Programm, das Dschihadisten zuvor bereits in Afrika und Asien und dann bei dem Angriff auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar und auf den Konzertsaal Bataclan im November 2015 in Paris umsetzten. Ihm folgten auch die beiden Dschihadisten, die in Großbritannien im Mai 2013 den Soldaten Lee Rigby auf offener Straße mit einem Wagen anfuhren und dann mit einem Messer ermordeten.

"Management der Barbarei"

In zeitlicher Nähe zur Schrift von Abu Suri ging ein weiterer Text online: "Das Management der Barbarei" ("Idarat at-tawahush"). Mutmaßlicher Autor ist ein nicht identifizierter Ägypter mit dem Kampfnamen Abu Bakr Naji. Bakr Naji war einer der Vordenker von Al-Kaida. Auch er plädiert für den Einsatz maximaler Gewalt.

"Wenn wir in unserem Dschihad nicht gewalttätig sind, sondern weich werden, dann wird das dazu beitragen, dass wir unsere Stärke verlieren – die ihrerseits ja eine der Säulen der Gemeinschaft der Gläubigen ist. Eine starke Gemeinschaft vermag ihre Positionen zu verteidigen; sie vermag dem Schrecken entgegenzusehen. Dies sind die guten Qualitäten, die wir in diesem Zeitalter verloren haben."

Kampf gegen die unsichtbare Gefahr: Soldaten auf Schutzpatrouille in ParisBild: picture-alliance/dpa/E. Laurent

Gewalt, so Bakr Naji, sei darum ein zentrales Instrument des Kampfes. Dabei denke er aber weniger an Aktionen wie die Flugzeug-Attentate auf das World Trade Center in New York vom September 2001. Vielmehr empfehle er "kleinere" Aktionen. Die müssten vor allem eines erreichen: Die Herzen der Kreuzfahrer in Angst und Schrecken versetzen."