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"Es wird schlimmer, bevor es besser wird"

Charlotte Potts London
18. März 2020

Eine Virus-Epidemie läuft wie ein Uhrwerk, lässt sich also berechnen. Der Mathematiker Stefan Flasche erläutert im DW-Interview, was man über die Verbreitung des Coronavirus bislang weiß.

UK Stefan Flasche
Bild: DW/C. Potts

DW: Herr Flasche, Sie forschen bereits seit zwei Monaten an der London School of Hygiene and Tropical Medicine zu dem Virus. Was haben Sie schon herausgefunden?

Stefan Flasche: Wir schauen uns die Verbreitung und die Eigenschaften von COVID-19 an, wie auch die Sterblichkeitsraten. Die Ausbreitung auf dem Kreuzfahrtschiff in Japan …

… der "Diamond Princess", die im Februar in Yokohama zwei Wochen unter Quarantäne stand …

… hat uns geholfen, das Virus besser zu verstehen, weil dort alle auf einem begrenzten Raum getestet wurden. Demnach scheint die Sterblichkeitsrate - auf alle Altersgruppen verteilt - bei einem Prozent zu liegen. Das ist allerdings sehr stark altersabhängig. Je älter man ist, desto höher das Risiko. Und das steigt ab 50 Jahren, besonders aber ab 60 Jahren.

Unter Quarantäne gestelltes Kreuzfahrtschiff "Diamond Princess"Bild: Reuters/A. Perawongmetha

Was bedeutet die Reproduktionszahl "R", von der in den vergangenen Tagen viel die Rede war?

Mithilfe dieser Zahl können wir abschätzen, wie viele andere ein Infizierter in einer nicht geschützten Bevölkerungsgruppe ansteckt. Wenn diese Zahl höher als eins ist, dann steckt der Infizierte mehr als einen weiteren Menschen an. Bei Corona schwanken die Zahlen etwas. Anfänglich zeigte sich, dass eine infizierte Person zwischen zwei und zweieinhalb Menschen ansteckt.

Warum ist es so schwierig, festzustellen, wie viele Fälle es tatsächlich gibt?

Wir nehmen an, dass es Betroffene gibt, die noch keine Symptome zeigen, aber trotzdem bereits das Virus verbreiten. Und es ist sehr schwierig, diese Leute ausfindig zu machen. Unsere Forschung geht davon aus, dass 10 bis 30 Prozent aller Ansteckungen von Menschen kommen, die noch keine Symptome zeigen. Eindämmungsstrategien konzentrieren sich auf Personen, die bereits Symptome zeigen. Das heißt aber auch, dass viele, die auch ansteckend sind, gar nicht in Betracht gezogen werden. Und das mag einer der Gründe gewesen sein, dass die Eindämmung in fast allen Ländern gescheitert ist.

Ist das auch der Grund, warum es in Italien so schnell so schlimm geworden ist?

In Italien gab es ein paar Fälle, die nicht bemerkt wurden. Wenn die erste Person in einem Land stirbt, hat man bereits vor zwei Wochen hundert Fälle nicht bemerkt, weil es eine Weile dauert, bis ein Erkrankter so schwere Symptome hat, dass er daran stirbt. In der Zwischenzeit haben diese einhundert Infizierten mit einer Reproduktionsrate von zwei wiederum andere angesteckt. Wenn das Virus also erst mit dem ersten Todesfall bemerkt wird, hat man bereits 1000 Fälle.

Was können wir von China und Südkorea lernen? Dort hat sich das Virus ja schon viel früher ausgebreitet als in Europa.

In China und Südkorea geht die Zahl der Neuerkrankungen runter. Das ist sehr interessant, um COVID-19 weltweit unter Kontrolle zu bringen. Diese Länder haben es geschafft, die Ausbreitung des Virus zu bremsen, in dem sie sehr drastische soziale Maßnahmen ergriffen haben, Menschen auf Abstand voneinander zu bringen. Wenn sich das Virus ungehindert ausbreitet, kommen die Gesundheitssysteme schnell an ihre Grenzen. Indem man die Ausbreitung verzögert, reduziert man auch die Zahl derer, die zu einem Zeitpunkt gleichzeitig krank sind, und das hilft dem Gesundheitswesen. Aber es bringt auch wertvolle Zeit, um Behandlungsmöglichkeiten und Impfstoffe zu entwickeln.

Anti-Corona-Maßnahmen in WuhanBild: Getty Images/AFP

Das heißt also, das sogenannte "Social Distancing" war in China und anderen Ländern erfolgreich in der Bekämpfung des Virus?

Einerseits sind das gute Nachrichten, weil die Maßnahme effektiv ist. Das Problem ist aber: Sobald diese Maßnahmen aufgehoben werden, wird es wieder einen Anstieg der Fälle geben, weil ein Großteil der Bevölkerung noch nicht immun ist. Das bringt die Regierungen in eine schwierige Lage. Denn diese Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens beeinträchtigen den Alltag und die Wirtschaft massiv und können nur eine Weile aufrechterhalten bleiben.

Was heißt das für Europa?

Es ist problematisch, wenn man zu früh beginnt, Schulen zu schließen und Großveranstaltungen abzusagen, weil die Maßnahmen dann umso länger Bestand haben. Deshalb wird auch manch ein Politiker damit gehadert haben, wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist.

Wie sinnvoll ist es, dass einige Länder Reisebeschränkungen eingeführt haben und andere sogar ihre Grenzen schließen?

Reisebeschränkungen haben das Ziel, Menschen, die bereits infiziert sind, von der Einreise abzuhalten. Das ist dann sinnvoll, wenn wenige Menschen in diesem Land infiziert sind. Wenn das Virus sich aber bereits im Land verbreitet hat, dann machen die paar Fälle, die von außen herein kommen, auch keinen Unterschied mehr.

Was kann denn noch getan werden?

Weniger drastisch wäre es, sich nur auf die Risikogruppen zu konzentrieren. Das würde die Ausbreitung allerdings nicht drosseln. Wenn wir also den Ausbruch der Krankheit ohnehin nicht verändern können, dann ist eine Strategie, diejenigen, die am schwersten betroffen sind, zu isolieren.

Das klingt alles so, als ob dieses Virus uns erst einmal erhalten bleiben wird?

Es ist schwierig zu sagen, wie lange. Bislang haben wir keine Hinweise darauf, dass das Virus im Sommer verschwindet.

Sind Sie besorgt?

Wir sollten uns alle sorgen. Es ist eine schwierige Zeit. Und es wird erst schlimmer werden, bevor es besser wird. Es gibt nicht viel, was wir tun können. Wir müssen jetzt vernünftig bleiben und uns die Informationen aus verlässlichen Quellen holen.

Stefan Flasche ist außerordentlicher Professor an der London School of Hygiene and Tropical Medicines. Er entwickelt dort mathematische Modelle für Infektionskrankheiten. Er hat sich unter anderem mit Impfmaßnahmen gegen Pneumokokken, dem Ausbruch der Schweinegrippe und von Ebola befasst und die WHO bei Berechnungsmethoden für Dengue-Fieber und Malaria beraten.

Das Gespräch führte Charlotte Potts.

 

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