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Mauerweg statt Marathon

21. März 2020

Wie das Coronavirus die Wahrnehmung eines Langstreckenläufers verändert und man trotzdem Gutes für Körper und Seele tut - und für seine Umwelt. Impressionen von DW-Reporter Marcel Fürstenau.

Berlin-Marathon Training auf dem Mauerweg Wegweiser
Bild: DW/M. Fürstenau

"Moin!" Allein dieser typisch norddeutsche Gruß, egal zu welcher Tageszeit, löst bei mir Hochgefühle aus. Hamburg ist dann ganz nah, obwohl die Hansestadt fast 300 Kilometer von Berlin entfernt ist. Am 19. April aber wollte ich für den Marathon wieder mitten drin sein: Reeperbahn, Landungsbrücken, Alster, Elbchaussee. 42,195 Kilometer laufend durch die Hansestadt, deren Einwohner ihr Fleckchen Erde für den schönsten der Welt halten. Und da ist was dran, finde ich.      

Seit 2005 laufe ich den Hamburg-Marathon. Nur einmal musste ich passen, weil mein ältester Sohn konfirmiert wurde. Und nun das: Corona! Die Absage kam am 11. März per Mail. Ein Satz hat mich besonders beeindruckt: "Sicherlich jeder von uns, ob Teilnehmerin oder Teilnehmer, Helferin oder Helfer, Partner oder Dienstleister und auch unser Organisationsteam ist hiervon mindestens ergriffen, bis hin zu tief betrübt." Das klingt fast schon poetisch.

Einer der vielen Höhepunkte für Läufer beim Hamburg-Marathon: die Elbphilharmonie an den Landungsbrücken Bild: picture-alliance/R. Goldmann

Als ich diese Zeilen las, fühlte ich mich in der ersten großen Enttäuschung nicht allein. Ein gutes Gefühl. Und ein schönes Beispiel dafür, wie mit wenigen, passenden Worten selbst ein für mich anonymes Organisationsteam Trost spenden kann. Während ich darüber nachdenke, beschleicht mich fast ein schlechtes Gewissen. Denn natürlich ist die Absage eines Marathons kein Beinbruch. Die wirklichen Tragödien spielen sich in diesen Tagen woanders ab: vor allem in Krankenhäusern.

Einsamkeit pur auf der Langstrecke

Ich bin dankbar, dass meine Familie und mein Freundeskreis bislang gut durch die Corona-Zeit gekommen sind. Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen. Seit ein paar Tagen arbeite auch ich in den eigenen vier Wänden. Zum Glück haben wir einen kleinen Garten und bis zum Tegeler Forst sind es nur ein paar hundert Meter.

Läufe auf dem Berliner Mauerweg geben dem Autor mehr Halt denn jeBild: DW

Wir wohnen zu zweit am nördlichen Stadtrand Berlins in Frohnau. In Zeiten wie diesen ist das ein besonderer Segen. Viele würden jetzt gerne mit uns tauschen. Home Office im Grünen kann dann nämlich besonders reizvoll sein.

Für meine Leidenschaft, das Laufen, ist die ungewohnte Arbeitsumgebung geradezu ideal. Meine bevorzugte Strecke, der Berliner Mauerweg, ist morgens und mittags oft menschenleer. Mir kommt das entgegen. Ich bin nicht der Typ Läufer, der sich oft nur in der Gruppe aufraffen kann - im Gegenteil. Doch die Einsamkeit, die ich jetzt erlebe, ist selbst für mich eine neue Erfahrung.

Ich bin fast schon froh, wenn mir nach mehreren Kilometern doch mal ein Spaziergänger über den schmalen Weg läuft, ein Radfahrer meine Route quert oder ein Hund auftaucht. Fast alle Gedanken kreisen irgendwie um Corona. Warum weicht die Frau meinen Blicken aus? Warum erwidert dieser Kerl nicht meinen Gruß? Haben die alle Angst, dass ich ihnen zu nahe komme? Wie erleichtert bin ich, als eine Kleinfamilie auf Fahrrädern freundlich "Guten Tag!" sagt.

Meine neue Aufmerksamkeit registriere ich auch in einem Moment, der mir vorher noch nie bewusst in den Sinn gekommen ist: als ich am Wegesrand ausspucken will. Keine schöne Eigenschaft von Sportlern, ich weiß, aber mitunter unvermeidlich. Bei körperlicher Anstrengung kann sich nun mal eine Menge Speichel im Mund sammeln. Doch dieses Mal unterdrücke ich mein Bedürfnis im letzten Moment, nachdem ich gerade einen Mann mit Hund überholt habe. Was würde der - völlig zurecht - über mich denken? "Der Typ spinnt wohl! Rennt ohne Mundschutz durch die Gegend und spuckt direkt vor mir auf den Boden!"

Die Natur bewusster wahrnehmen

So viel Achtsamkeit habe ich an mir wohl noch nie beobachtet. Und so viel Aufmerksamkeit für meine gewohnte Umgebung. In diesen ersten Frühlingstagen blühen auf der Stolper Heide die Mirabellenbäume in einem Weiß, das aus der Ferne fast wie Schnee aussieht. Als ich dicht neben ihnen laufe, atme ich mit der frischen Luft den süßen Duft ein. Habe ich das jemals so bewusst und intensiv getan?

Blühende Mirabellenbäume auf der Stolper Heide - ein ideales Terrain nicht nur für Marathon-Läufer Bild: DW/M. Fürstenau

Nach sechs Kilometern liegt die Hälfte meiner Strecke hinter mir. Sie gehört zu meinem Standard-Repertoire. Mindestens einmal pro Woche laufe ich hier entlang - seit fast 20 Jahren. Routine also. Routine? Nicht in Corona-Zeiten. Links und rechts von mir scanne ich mit konzentriertem Blick, was sich auf dem Golfplatz abspielt. Mein Sandweg trennt die Anlage in zwei Hälften. Obwohl die Sonne scheint, entdecke ich bei frühlingshaften Temperaturen um die 15 Grad Celsius nur zwei Spieler, die das weitläufige, satte Grün für sich allein haben.

Ein Handicap, das gar keins ist

Gute Zeiten für Golfer, die ihr Handicap verbessern wollen, denke ich spontan. "Was für ein Wort!", schießt es mir jedoch im nächsten Moment durch den Kopf. Handicap! Warum heißt das eigentlich so? Ich verbinde mit diesem Wort - aus alter Gewohnheit - noch immer Negatives: eine Behinderung, ein Hindernis. Und schon bin ich dabei, nach positiven Assoziationen zu suchen. Sofort fallen mir Behindertensportler ein, die ich so sehr bewundere: Läufer, Springer, Kugelstoßer, Basketballer.

Auch auf dem Golfplatz Stolper Heide direkt hinter der Berliner Stadtgrenze ist in Corona-Zeiten weniger losBild: DW/M. Fürstenau

Und schon bin ich wieder bei mir, bei dem, was ich gerade tue. Täuscht mich mein Gefühl, oder ist mein Tempo für meine Verhältnisse wirklich ganz schön hoch? Einen Blick auf die Uhr verkneife ich mir - wie fast immer. Aber ich bin mir ziemlich sicher, die zwölf Kilometer unter einer Stunde zu laufen. Das wäre ein Kilometerschnitt von knapp unter fünf Minuten. Dabei geht es mir überhaupt nicht darum, mir etwas zu beweisen. Mein Potential kenne ich ganz gut. Und vernünftiges Lauftraining ist auch und vor allen Dingen eine Frage der richtigen Dosierung.

Laufen, als sei nichts geschehen

In dieser Phase, rund einen Monat vor dem Hamburg-Marathon, befinde ich mich schon seit einigen Wochen auf dem Trainingshöhepunkt: sogenannte lange Läufe zwischen 25 und 35 Kilometer. Doch wofür das Ganze jetzt noch, nachdem die Veranstaltung abgesagt wurde? Blöde Frage! Bloß keine trüben Gedanken aufkommen lassen! "Du läufst jetzt einfach weiter, als sei nichts geschehen", sage ich zu mir selbst. Irgendwann wird die Corona-Zeit vorbei sein. Vielleicht früher, als alle im Moment glauben. Und dann will ich bereit sein - für den nächsten Marathon. 

Berlin-Marathon 2019: Rund 40.000 Läufer und Biker sind am Start. 2020 könnte der Lauf wegen Corona ausfallen Bild: Reuters/H. Hanschke

Im September steht Berlin in meinem Kalender. Das wird ja wohl reichen. Und noch glimmt in meinem tiefsten Innern ein Fünkchen Hoffnung, vorher doch noch meinen Lieblingsmarathon laufen zu können. Denn die Organisatoren in Hamburg haben ihren und meinen Lauf zunächst nur verschoben. In der Mail vom 11. März steht nämlich auch: "Sobald wir stichhaltige Informationen für einen neuen Termin des Haspa Marathon Hamburg 2020 haben, werden wir dich umgehend in Kenntnis setzen." Da steht wirklich 2020!

Auf die Mitmenschen Acht geben

Dieser Optimismus wirkt ansteckend auf mich. Ansteckend - was für ein Wort in Zeiten von Corona! Die Mail endet mit diesem Appell: "Bis dahin bitten wir dich um Geduld und auch deine Mithilfe, die darin besteht, Ruhe zu bewahren, auf dich und deine Mitmenschen Acht zu geben und gesund zu bleiben." Ihr könnt euch auf mich verlassen!

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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