"Maximal 1,5 Grad Celsius ist unrealistisch"
4. August 2017Optimismus klingt anders: "Weniger als 2 Grad Celsius Erderwärmung bis 2100 unwahrscheinlich", lautet der Titel einer Studie, die diese Woche in "Nature Climate Change" erscheint.
Die Chance, dass wir die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius beschränken können, liege bei nur fünf Prozent, schreiben Forscher der University of Washington in Seattle. Die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad zu halten, ist mit einem Prozent Wahrscheinlichkeit "unrealistisch", sagt Adrian Raftery, Erstautor der Studie.
Im Übereinkommen von Paris hatten sich 195 Staaten darauf geeinigt, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur im Vergleich zum vorindustriellen Niveau auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen - wenn möglich sogar auf 1,5 Grad.
Eine zweite Studie in der gleichen Ausgabe des Journals vermeldet, dass eine Erwärmung von 1,1 Grad Celsius unvermeidbar sei. Und zwar selbst dann, wenn die Menschheit von heute auf morgen aufhören würde, irgendwelche Treibhausgase in die Luft zu pusten - ein eher unwahrscheinliches Szenario. "Unter 1,5 Grad Erderwärmung zu bleiben, ist illusorisch", meint auch Autor Thorsten Mauritsen vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg.
Da fragt man sich: Warum spricht das Übereinkommen von Paris überhaupt davon, die Erderwärmung möglichst auf maximal 1,5 Grad beschränken zu wollen? Waren die Politiker zu optimistisch?
"Augenwischerei"
Aufgebracht habe die Idee vom 1,5-Grad-Ziel der Weltklimarat IPCC, sagt Thorsten Mauritsen im DW-Interview. "Es gibt so ein Wunderszenario vom IPCC, in denen die Klimamodelle 1,5 Grad Celsius erreichen."
Allerdings gehe dieses Szenario davon aus, dass die CCS-Technik (Carbon Capture and Storage), welche Kohlendioxid in großen Mengen unterirdisch speichert, großflächig eingesetzt würde - viel zu teuer und aufwendig, meint Mauritsen. "Das Szenario ist ehrlich gesagt so ein bisschen Augenwischerei." Selbst vielen Forschern sei nicht klar gewesen, dass es extrem unwahrscheinlich sei. "Der IPCC hat nicht klar gemacht, welche seiner Szenarien überhaupt realistisch sind", bestätigt Adrian Raftery.
Langsam und träge
Das Klimasystem der Erde ist träge. Es braucht eine Weile, sich neu einzustellen, nachdem die Kohlendioxidemissionen zurückgehen, erklärt Thomas Frölicher, Klimaphysiker an der Universität Bern in der Schweiz. "Etwas Erwärmung ist noch in der Pipeline von vergangenen Emissionen."
Das liege unter anderem daran, dass die Ozeane Wärme aufnehmen und speichern. Bis sich auch die großen Wassermassen der Tiefsee auf die neue Situation eingestellt haben, das dauert Jahrhunderte. In dieser Zeit steigen die Temperaturen weiter.
Für die verzögerte Erwärmung ist aber auch der Feinstaub verantwortlich. Werden weniger fossile Brennstoffe verbrannt, nimmt die Menge an Feinstaubpartikeln in der Luft schnell ab. Sie werden beispielsweise durch Regen weggewaschen. Das klingt zwar positiv, hat aber Nachteile für das Klima: Staubteilchen in der Luft reflektieren die Sonneneinstrahlung zurück ins Weltall und kühlen die Erde daher ab. Werden sie weniger, heizt sich die Erde erstmal auf - laut einer Studie von 2012 um mehrere Zehntel Grad Celsius pro Jahrzehnt.
"Ich war etwas irritiert, dass man beim Übereinkommen von Paris überhaupt das 1,5-Grad-Ziel diskutierte", erzählt Mauritsen. "Damals dachte ich, das sei eh schon überschritten." Daher begannen er und Robert Pincus von der University of Boulder in Colorado zu rechnen.
Weitere Erwärmung unvermeidbar
Anhand von Messdaten der vergangenen Jahrzehnte errechneten die beiden Forscher, dass sich bis ins Jahr 2100 das System Erde um 1,3 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit aufheizen wird. Das ist sozusagen das Best-Case-Szenario, wenn die Menschheit also von heute auf morgen aufhören würde, fossile Brennstoffe zu verbrennen. Jegliche Erwärmung durch weitere Kohlendioxidemissionen addiert sich dazu.
Die Meere nehmen allerdings nicht nur Wärme, sondern auch Kohlendioxid auf - letzteres führt zu einer Temperaturabnahme um 0,2 Grad Celsius. Somit bleiben netto 1,1 Grad Erderwärmung bis zum Jahr 2100.
Allerdings: Mauritsen sieht es positiv. "Wir haben noch etwas Bewegungsfreiheit, bis die 1,5 Grad Celsius erreicht sind." Zwar sehe es schlecht aus für das 1,5-Grad-Ziel, aber "es gibt noch Hoffnung, dass wir unter 2 Grad bleiben können."
Über 2 Grad wahrscheinlich
Das sieht Adrian Raftery etwas anders. Er hat mit seinen Kollegen anhand von Daten aus 150 Ländern berechnet, wie sich der CO2-Ausstoß und damit auch die Temperaturen bis 2100 entwickeln werden. Er spricht von "Vorhersagen", im Gegensatz zu den IPCC-Szenarien. Einbezogen haben die Forscher auch das Bevölkerungswachstum, das Wirtschaftswachstum und die Kohlenstoffeffizienz - das ist die Menge an CO2, die ausgestoßen wird, um ein bestimmtes Bruttoinlandsprodukt zu erzielen. Ihr Ergebnis: ein sehr wahrscheinlicher Temperaturanstieg zwischen 2,0 und 4,9 Grad Celsius.
Kohlendioxid in der Atmosphäre verschwinde nun mal nicht von heute auf morgen, selbst wenn wir in Zukunft weniger zusätzliches CO2 ausstoßen, sagt Raftery. "Es häuft sich an." Auch der Anstieg der Weltbevölkerung auf 11 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2100 wirkt sich der Studie nach ungünstig auf das Weltklima aus.
Seine Vorhersage soll aber keinesfalls demotivieren, betont Raftery: "Selbst wenn wir das 2-Grad-Ziel verfehlen, ist es sehr wichtig, so nah wie möglich an diesem Wert zu bleiben." Die Folgen würden schließlich umso dramatischer, je mehr sich die Erde erwärmt.
Mehrere Forscher hatten bereits bemängelt, dass das 2-Grad-Ziel willkürlich und kontraproduktiv sei. "Klimapolitik funktioniert momentan als Entweder-Oder: Entweder wir halten die 2 Grad, oder die Katastrophe geschieht", sagte Oliver Geden, Experte für Energie- und Klimapolitik der EU bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, im "taz"-Interview.
"Mein Ansatz ist: Es gibt auch einen Raum dazwischen - und es ist besser, wir erreichen 2,5 Grad oder 3 als 4, 5 oder 6.
"Wir müssen kreativer werden"
Delphine Deryng, wissenschaftliche Beraterin bei Climate Analytics, einem klimawissenschaftlichen Institut in Berlin, glaubt nicht, dass das 1,5 Grad-Ziel bereits verfehlt ist. "Die beiden Studien beziehen nur die Vergangenheit ein, aber keine aktuellen Entwicklungen." Der Boom bei den Erneuerbaren Energien etwa sei in den Berechnungen gar nicht berücksichtigt.
Selbst wenn Rechnungen zeigen, dass das 1,5-Grad-Ziel schwer erreichbar ist, sei das für sie nur eine Aufforderung, sich noch mehr anzustrengen, sagt Deryng der DW: "Wir müssen noch kreativer werden. Vielleicht brauchen wir eine noch drastischere Klimapolitik. Außerdem sollten wir die CCS-Technik genauer in Augenschein nehmen." Wenn zu viel CO2 in die Luft gelangt, müsse man eben Wege finden, es aufzufangen und zu speichern.
Für Adrian Raftery ist der wichtigste Schritt noch mehr Forschung. "Die Kohlenstoffeffizienz hat sich in allen Ländern über die letzten Jahrzehnte verbessert. Daran müssen wir weitermachen und die Entwicklung noch beschleunigen." Als Beispiel nennt Raftery die LED-Technik. Technische Lösungen wie diese zu finden, sei der beste Weg, die Erderwärmung auf einem Minimum zu halten.