1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Briefe an die ermordeten Großeltern

Christine Lehnen
12. November 2022

Ihre Mutter überlebte Auschwitz und emigrierte nach England. Die Tochter lebt wieder in Berlin - das sei ihr Geburtsrecht. In fiktiven Briefen beschreibt Maya Lasker-Wallfisch das Holocaust-Trauma und ihr neues Leben.

Autorin Maya Lasker-Wallfisch
Autorin Maya Lasker-WallfischBild: Stephan Pramme

Seit zwei Jahren lebt die Londonerin Maya Lasker-Wallfisch in Deutschland, der Heimat ihrer Mutter Anita. Wenn sie in Berlin die Straße entlang gehe, spüre sie manchmal die Blicke der Passanten auf sich gerichtet, sagte sie: Denn sie trägt eine Kette mit einem Davidstern um den Hals. 

"In London käme ich nie auf den Gedanken, meinen Anhänger zu verstecken", bekannte sie gegenüber der DW. Manchmal macht sie diese Aufmerksamkeit nervös. Im Februar dieses Jahres sogar so nervös, dass sie dachte: "Oh Gott, dieses Land ist voller Nazis."

Antisemitismus: Warum er sich so hartnäckig hält

13:18

This browser does not support the video element.

Kurzerhand kaufte Lasker-Wallfisch sich ein Haus in der alten Heimat England - mitten auf dem Land in der Grafschaft East Sussex, in einem 4000-Seelen-Dorf namens Rye. "Das verkaufe ich gerade wieder", erzählt sie lachend. "Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich dort war. Sie kann sich sogar vorstellen, von dem Erlös eine Eigentumswohnung in Berlin zu kaufen.

Maya Lasker-Wallfisch schreibt auch in ihrem zweiten Buch fiktive Briefe an die ermordeten Großeltern

Denn trotz aller Bedenken will sie in Deutschland leben: "In England habe ich mich immer wie eine Geflüchtete gefühlt", so beschreibt sie es gegenüber der DW. "Ein Leben in Deutschland war mein Geburtsrecht." Als Kind deutscher Großeltern hätte sie in diesem Land auf die Welt kommen sollen, nicht in England. Deswegen hat sie für ihr gerade erschienenes Buch den Titel gewählt: "Ich schreib euch aus Berlin: Rückkehr in ein neues Zuhause". 

Das Trauma des Holocaust wird weitergegeben

Erst spät erfuhr Maya Lasker-Wallfisch von dem Schicksal ihrer Familie. Mayas Mutter Anita Lasker-Wallfisch und ihre Tante Renate waren Holocaust-Überlebende, die 1946 nach Großbritannien emigrierten. Von der Vergangenheit wollten sie nichts mehr wissen: Anita war der Todesmaschinerie der Nazis als Cellistin von Auschwitz entkommen, ihre Schwester Renate als Lagerbotin für die SS. Mayas Großeltern hingegen wurden ermordet.  

Klassik unterm Hakenkreuz

01:26:05

This browser does not support the video element.

Erst nach dem Tod des Vaters öffnete sich Anita Lasker-Wallfisch der Tochter und erzählte ihr von all dem Unvorstellbaren, das sie erlebt hatte. Erstmals realisierte Maya, warum sie lange Jahre lang psychisch instabil war: "Das ist das Echo des generationenübergreifenden Traumas, das mein ganzes Leben überschattet hat. Als Kinder verlassen wir uns darauf, dass unsere Eltern uns dabei helfen, die Welt zu verstehen, in uns und um uns herum. Bei mir blieb das aus."

Diese Zeilen sind in ihrem 2020 erschienenen Buch "Briefe nach Breslau: Meine Geschichte über drei Generationen" nachzulesen. Ein stabiles Leben schien Maya Lasker-Wallfisch nie möglich, bis sie sich ihrer Familiengeschichte zuwandte. Durch den Brief-Dialog mit ihren toten Großeltern konnte sie sich in ihrer jüdischen Familiengeschichte verankern und ihre eigene Identität finden.

Deutschland: "beeindruckend und angsteinflößend"

Heute ist Maya Lasker-Wallfisch eine international anerkannte Trauma-Expertin. Auf den Spuren ihrer Familie sucht sie in Deutschland heimisch zu werden. "Ich kam als eine, die einen Faden aufnehmen wollte, an den abgerissenen Faden des Ungelebten anknüpfen", steht in ihrem gerade erschienenen zweiten Buch "Ich schreib euch aus Berlin". Darin verfasst Lasker-Wallfisch weitere Briefe an die Großeltern, die sie nie kennenlernen durfte. Sie gräbt noch tiefer in der Familiengeschichte, schreibt über das Leben ihrer Mutter Anita, ihre Tante Renate - und über das Leben einer Jüdin im heutigen Berlin.  

Im Bundestag hielt Anita Lasker-Wallfisch 2018 eine Holocaust-Gedenkrede - für Tochter Maya ein bewegender Moment Bild: Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance

Ihr Bericht darüber ist so beeindruckend wie angsteinflößend - zwei Wörter, die sie auch auf Deutschland anwendet. Beeindruckend, wie sie versucht, ihren Platz als Jüdin in Berlin zu finden, zwischen dem jüdischen Friedhof Weißensee und der Synagoge in der Pestalozzi-Straße.

Angsteinflößend, wie viel Antisemitismus ihr begegnet, Tag für Tag. Und immer wieder die Erinnerungen an Auschwitz, wo ihre Mutter und ihre Tante inhaftiert waren.

Der Horror von Auschwitz

"Beide Schwestern trugen ihre Geheimnisse aus der fürchterlichen Zeit in Auschwitz und Bergen-Belsen mit sich", schreibt Maya Lasker-Wallfisch. "Da ist die Geschichte von dem Stück Schokolade, das Renate in Auschwitz von jemandem bekam und mit ihrer Schwester teilen wollte, und dann schaffte sie es nicht und aß es allein, weil sie so hungerte."

Und: "Die Geschichte von dem Kind, das Renate in Auschwitz von einer Mutter auf dem Weg in den Tod übergeben wurde, um das sie sich kümmerte, solange sie konnte, bevor es starb. Diesen Horror muss man sich vorstellen."

Seine Auswirkungen auf das Leben der Kinder und Kindeskinder zu verstehen, dazu leistet Maya Lasker-Wallfischs Buch einen wichtigen Beitrag. Damit tritt sie in die Fußstapfen ihrer Mutter, die sich erst nach Jahrzehnten des Schweigens entschlossen hatte, der Welt von ihren Erlebnissen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu berichten. "Meine Mutter hat den Staffelstab an mich weitergegeben", sagt Maya Lasker-Wallfisch der DW. "Jetzt ist es an mir."

​​​​ Maya Lasker Wallfisch: "Ich schreib euch aus Berlin. Rückkehr in ein neues Zuhause", Insel Verlag 2022.

Eine Stimme gegen Antisemitismus

02:49

This browser does not support the video element.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen