Conterganstiftung will Opfern Rente streichen
29. November 2019Nach Informationen des Magazins "Der Spiegel", Norddeutschem Rundfunk (NDR) und Südwestrundfunk (SWR) verschickte die Conterganstiftung Mitte Oktober einen Brief an 58 Geschädigte in Brasilien. Darin habe sie ihre Absicht mitgeteilt, die Anerkennungsbescheide "mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen". Zudem werde in dem Schreiben "die sofortige Vollziehung" angeordnet.
Den Berichten zufolge hatten die Mütter Ende der 1950er oder Anfang der 1960er Jahren in all diesen Fällen in der Frühphase ihrer Schwangerschaft das Medikament Sedalis eingenommen, das den verhängnisvollen Wirkstoff Thalidomid enthielt. Der Wirkstoff stammte von der deutschen Firma Chemie Grünenthal GmbH, dem Hersteller der Präparats Contergan.
Die Conterganstiftung begründet demnach ihr Vorgehen damit, dass Sedalis kein Präparat der Grünenthal GmbH sei, sondern ein Medikament, "welches durch einen Lizenznehmer in eigener Verantwortung hergestellt und vertrieben wurde". Zu diesem Ergebnis sei die Stiftung 2018 im Zusammenhang mit Nachforschungen zu einer Anfrage zu einem anderen Thalidomid-Medikament gekommen, das in Brasilien vertrieben wurde. Die Conterganstiftung sei nicht für die Entschädigungen zuständig. Die Betroffenen aus Brasilien waren den Berichten des Medientrios zufolge vor teilweise mehr als 45 Jahren als Entschädigungsberechtigte anerkannt worden, weil die Conterganstiftung selbst das Schlafmittel Sedalis als Grünenthal-Präparat einstufte.
Grünenthal geht auf Distanz
Die Firma Grünenthal distanzierte sich auf Nachfrage von "Spiegel", NDR und SWR nun von der neuen Aussage der Conterganstiftung, Sedalis sei kein Medikament von Grünenthal. Der Pharmakonzern erklärte, "mit solchem Vorgehen nicht einverstanden" zu sein: "Die Conterganstiftung hat durch ihre verantwortlichen Gremien vor beinahe 50 Jahren in Kenntnis der Umstände entschieden, dass Sedalis ein Produkt war, das unter das Conterganstiftungsgesetz fällt." Grünenthal sehe "keine Veranlassung, an dieser Bewertung zu zweifeln".
Das Bundesfamilienministerium als Aufsichtsbehörde erklärte demnach, die Stiftung habe aus eigenem Entschluss die Schreiben verschickt. Das Ministerium habe vom Inhalt keine Kenntnis gehabt. Vorerst - also bis zum Abschluss der Anhörungen - würden die Leistungen weitergezahlt.
130 Millionen Euro Rente
Derzeit gibt es laut "Spiegel" weltweit 2584 Thalidomid-Geschädigte, die monatliche Renten von rund 700 bis 8000 Euro erhalten. Fast 300 von ihnen leben laut NDR im Ausland. Die Summe dieser Renten belief sich demnach im vorigen Jahr auf fast 130 Millionen Euro, weitere 27 Millionen Euro gab die Stiftung für pauschale Leistungen. Die Summe der Entschädigungszahlungen, die vom deutschen Staat über die Stiftung an die brasilianischen Opfer bezahlt wird, belief sich den Angaben zufolge 2018 auf rund 2,8 Millionen Euro.
Zugesichert wurden die Entschädigungen allen Betroffenen - allerdings unter der Voraussetzung, dass die Mutter tatsächlich ein Präparat der Firma Grünenthal genommen hatte. Denn Thalidomid war in mehr als 40 Ländern erhältlich. Teils verkaufte Grünenthal das Medikament unter verschiedenen Markennamen selbst, teils stellten andere Firmen Thalidomid-Präparate als Lizenznehmer her.
In Deutschland war das Schlafmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid am 1. Oktober 1957 rezeptfrei in den Handel gekommen. Das von vielen Schwangeren eingenommene Mittel führte zu schweren körperlichen Fehlbildungen bei den Embryonen - an inneren Organen, vor allem aber an den Gliedmaßen. Das vermeintlich harmlose Mittel steht für einen der größten Arzneimittelskandale der Geschichte.
kle/hk (afp, NDR.de, spiegel.de, ARD)