"Medien können Angstreaktionen verstärken"
21. April 2011DW-WORLD.DE: Herr Professor Renn, Geigerzähler waren in deutschen Elektrogeschäften nach der Katastrophe in Japan ausverkauft, die Nachfrage nach Jodtabletten in Apotheken stieg an, nur im Bekannten- oder Freundeskreis kannte man niemanden, der dies getan hat. Wird die Angst und Hysterie in Deutschland immer übertrieben?
Ortwin Renn: Offenkundig gab es aber genügend Personen, die aus Furcht vor der Strahlung Jodtabletten und Geigerzähler gekauft haben. Ähnliches wird auch aus den USA und anderen Ländern berichtet. Vor allem in den Gesellschaften, in denen es wenige konkrete Bedrohungen durch Naturgefahren oder Technikkatastrophen bestehen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass virtuelle Gefahren, die sich zudem noch unserer direkten Wahrnehmung entziehen, zu ernsthaften Bedrohungen aufgebauscht werden. Viele Menschen projizieren geradezu das Potenzial an unbewältigten Angstgefühlen auf die Objekte, die sich am besten als Projektionswand eignen. Dafür ist radioaktive Strahlung besonders prädestiniert: sie kommt schleichend daher, man kann sie ohne Instrumente nicht sinnlich wahrnehmen und sie bedingt das Anwachsen einer heimtückischen Krankheit, die erst Jahre nach der Exposition ausbricht. Das alles schürt tief verwurzelte Ängste gegenüber der technisch dominierten Zivilisation.
DW-WORLD.DE: Gehen andere Länder unterschiedlich mit den Ereignissen in Japan um?
Ortwin Renn: Ja, vor allem die Japaner selbst. Im Angesicht einer realen Katstrophe sind Menschen viel realistischer und gefasster als im Falle einer nur virtuell drohenden Katastrophe. Das gilt im übrigen auch für Deutschland. In Deutschland kommt dazu, dass seit Jahren die Kernenergie umstritten ist und die Lager polarisiert. Umso stärker wirkt dann ein Ereignis wie die Reaktorhaverie in Japan auf die Schärfe der Debatte ein.
DW-WORLD.DE: In Frankreich sind Dutzende Atomkraftwerke am Netz. Allerdings wird hier scheinbar besonnener über die Atomkraft diskutiert als in Deutschland. Warum?
Ortwin Renn: Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist für die Franzosen die Kernenergie eine "heimische" Energiequelle. Sie haben keine Kohle oder andere fossilen Energieträger, so dass sie auf Einfuhren angewiesen sind. Uran spielt als Quelle der Abhängigkeit dabei kaum eine Rolle. Zum zweiten vertrauen die Franzosen ihren technischen Eliten mehr als wir Deutsche unseren Eliten. Die Franzosen haben auch Angst vor Strahlung und bewerten die Risiken der Kernenergie ähnlich wie die Deutschen. Sie vertrauen aber den Betreibern und den Regulationsbehörden, dass sie diese Risiken beherrschen. Das hat sich auch nach Fukushima nicht geändert.
DW-WORLD.DE: Im englischsprachigem Ausland wird gerne von der "German Angst" gesprochen - sind die Deutschen wirklich so ängstlich und sorgenvoll?
Ortwin Renn: Ganz so negativ ist es nicht. Was beispielsweise Haushalts-, Unterhaltungs- oder Automobiltechnik angeht, sind die weitaus meisten Deutschen außerordentlich technikfreundlich. Ganz anders sieht es hingegen bezüglich externer Technologien aus, die den Menschen nicht im täglichen Gebrauch geläufig sind. So liegt Deutschland in der Tat europaweit mit an der Spitze, was in Umfragen ermittelte Vorbehalte gegenüber Kern- oder Gentechnik betrifft. Weniger kritisch sieht es wiederum bei der Nanotechnologie aus, bei der die Deutschen im Mittelfeld landen.
DW-WORLD.DE: Handelt es sich bei der "German Angst" eventuell um ein Medienphänomen? Schüren Medien solche Ängste, indem Themen wie Schweinegrippe oder Inflation überhöht werden.
Ortwin Renn: Medien schaffen keine Ängste, sie können aber Angstreaktionen verstärken. Bei der Schweinegrippe konnten wir beobachten, dass die Zahl der Grippeimpfungen signifikant stieg, als die Bildzeitung mit dem angeblich ersten Toten der Epidemie auf Seite 1 aufwartete. Ähnliches können wir auch bei der Atomdebatte beobachten: Viele Menschen halten den Unfall in Fukushima für die größte bisher erlebte Umweltkatastrophe, obwohl die Zahl der Opfer nach heutiger Sicht noch überschaubar ist. An dieser Inflation der Superlative ist sicher auch die Medienberichterstattung mit Schuld.
DW-WORLD.DE: Aktuell zieht die Inflation in Deutschland wieder etwas stärker an. Schnell heißt es dann, die Deutschen investierten ihr Geld nun in Immobilien, Edelmetalle oder Aktien, die Erfahrung der Hyperinflation von 1923 stecke noch zu tief in uns drinnen. Aber 1923 ist über 85 Jahre her, Generationen sind nachgewachsen, betrifft uns das wirklich noch?
Ortwin Renn: Manche Lehren aus der Vergangenheit bleiben latent über viele Jahrzehnte erhalten, auch und gerade, wenn sie mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmen. Die Faszination, die etwa vom Gold ausgeht, ist über Jahrhunderte nachzuweisen und wirkt bis in die Gegenwart. In Zeiten, in denen Währungen unter Druck geraten, sind Anlageformen, die nicht auf symbolische Wertzuweisung angewiesen sind, besonders beliebt. Das wird sicher auch in 100 Jahren noch so sein.
Ortwin Renn ist Risikoforscher und Professor für Umwelt und Techniksoziologie an der Universität Stuttgart.
Das Interview führte Arne Lichtenberg
Redaktion: Hartmut Lüning