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Musik

Die Botschaft von Beethovens "Pastorale"

Rick Fulker
16. November 2017

Von glücklichen Kühen bis zum Freiheitskampf: Der Bonner Generalmusikdirektor Dirk Kaftan erklärt im DW-Gespräch, was so alles in Ludwig van Beethovens Sechster Sinfonie steckt.

Dirk Kaftan - Generalmusikdirektor der Stadt Bonn
Bild: Thilo Beu

Die Sinfonie Nr. 6 von Ludwig van Beethoven ist derzeit Ausgangspunkt einer weltweiten Aktion gegen Klimaveränderung. In kreativen Projekten, die mit der "Pastorale"-Sinfonie in Verbindung stehen, können Künstler ab dem 15. November ihre Ideen entwickeln und sich vernetzen. Am Vorabend des Projekt-Beginns wurde die Sinfonie in der Bonner Oper vom Beethoven Orchester Bonn unter der Leitung seines Chefdirigenten Dirk Kaftan gespielt. Das Werk aus dem Jahr 1808 ist eine große Naturbeschreibung – aber auch viel mehr, sagt Kaftan.

Deutsche Welle: Sie sagten einmal: 'Mit seiner Musik wollte Beethoven die Welt verändern.' Dabei denkt man zunächst an Werke, die eine große Dynamik entfalten, wie die Dritte Sinfonie, oder die Fünfte oder Neunte. Jetzt geht es aber um die Sechste: Da plätschert der Bach, die Vögel zwitschern, und nachher kommt der Sturm. Sehen Sie auch in diesem Werk den Drang, durch die Musik die Welt zu verändern? 

Dirk Kaftan: Ich sehe diesen Drang absolut, weil die Sechste nicht nur dahinplätschert und die Natur beschreibt. Das wäre auch schon ein Ansatz, zu sagen: Ich bilde die Natur in Tönen ab – und weil sie so schön ist, soll man sie bewahren. Das ist aber nicht so, denn in dieser Sinfonie geht es um die Beziehung zwischen Mensch und Natur – zum einen um die Natur als Rückzugsort. Aber zum anderen beschreibt dieses Stück auch ganz klar den Anfang der Industrialisierung, den Eingriff in die Natur und die gestalterische Kraft des Menschen. Und sie appelliert an den Menschen als Kraft der Zukunft.

Welche musikalischen Mittel benutzt Beethoven dabei, um diese Botschaft zu verbreiten?

Im ersten Satz erleben wir etwas sehr Untypisches für Beethoven, eine Art experimenteller Musik, wo es um Ausatmen und Loslassen geht. Es geht tatsächlich um die Natur als Rückzugsort, als harmonisches Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur. Durch die vielen Wiederholungen wird das Zeitgefühl aufgelöst. Es geht um das Sich-Vergessen und Aufgehen.

Der zweite Satz beschreibt nicht nur das Plätschern eines Bachs, sondern eine Szene, die zwischen Menschen am Bachufer spielt. Und das hat man zu Beethovens Zeit ganz klar erotisch gedeutet. Es passiert etwas sehr Geheimnis- und Liebevolles, das in immer neuen Farben und Facetten daherkommt. 

Der dritte Satz beginnt wiederum sehr schüchtern, sehr vornehm und galant. Da tritt kein Bauerntölpel auf, sondern ein galanter Städter, der langsam in das Geschehen hineingezogen wird und beim Fest auf dem Land eine Art "back to the roots" erlebt. Er wird in die Urkräfte mitgerissen.

Das Ganze wird am Höhepunkt durch das Gewitter unterbrochen. Das ist aber nicht nur ein Sturm mit Blitz und Donner – wie das mal bei Rossini zu hören ist –, sondern man hört hier auch Motive der französischen Revolutionsmusik. Es geht also um einen Umsturz, ein reinigendes Gewitter in jeder Hinsicht.

Das Gewitter ebbt ab, und dann hören wir eine Melodie, die auch heute noch sehr bekannt ist. Am Anfang des letzten Satzes steht ein Kuh-Reigen. Diese Melodie wird in der Schweiz auf dem Alphorn gespielt, um die Kühe zu motivieren, mehr Milch zu geben.

Das "Beethoven Pastoral Project" appelliert an die Fantasie von Künstlern weltweitBild: Beethoven-Haus Bonn und solarseven/Shutterstock.co

Man könnte sagen: Gut, das ist ein romantischer Traum von schweizerischer Milch und guter Schokolade. Aber für den Hörer der damaligen Zeit war die Schweiz absolut politisch aufgeladen. Sie war der Ort der Freiheitskämpfe, man denkt an Wilhelm Tell und andere. Und so, wie ich das empfinde, erleben wir in diesem letzten Satz tatsächlich eine Hymne an die Menschlichkeit und an die Kraft des Menschen, einzugreifen und etwas zu verändern. Ganz anders als bei Anton Bruckner, der an Gott als eine höhere Kraft appelliert, das Ganze zu richten. Hier erfolgt ein Appell an den Menschen.

Wenn man das Beethoven vorhergesagt hätte: Zweihundert Jahre später wird diese Musik eingesetzt, um die Menschheit auf eine drohende Naturkatastrophe aufmerksam zu machen – hätte ihn das überrascht? Denn es mangelte ihm bekanntlich nicht an Selbstbewusstsein…

Überraschen würde ihn wahrscheinlich der Zustand der Welt. Niemand hat damals geahnt, was die Industrialisierung bedeutet. Damals haben führende Landwirte schon den Eingriff der Menschen in die Natur und die Folgen diskutiert – und Beethoven war "up to date", was den Stand der Geisteswissenschaften betrifft.

Was sein Selbstbewusstsein betrifft: Manchmal hat er davor gestrotzt und seine Größe vielleicht erkannt. Manchmal war er aber wieder geknickt und verzweifelt. Das schwankte extrem. Aber keiner der Komponisten hätte damals gedacht, dass ihre Musik so lange gespielt wird. Damals hat man nur Neues gespielt, und Altes hat man zu Studienzwecken hervorgeholt.

Beethoven erklärte einmal, seine "Pastorale"-Sinfonie sei nicht Lautmalerei, sondern Ausdruck der Empfindung. Er wollte nämlich seine eigene Empfindung offenbaren, um dann wiederum beim Hörer Empfindungen hervorzurufen. Ist das Stück deshalb äußerst persönlich, oder steht dabei eher das übergeordnete Ziel im Vordergrund?

Beides, aber für mich liegt der Schwerpunkt auf dem übergeordneten Ziel. Beethoven hat sein Privatleben nicht großartig nach Außen gekehrt. Er war sich zu klein um irgendwelche persönliche Erfahrungen biographisch-musikalisch wiederzugeben. Es geht bei ihm um das große Ganze.

In Bonn "brodelt und gärt es" mit den Vorbereitungen zum Jubiläumsjahr 2020: 250 Jahre nach der Geburt Ludwig van Beethovens in BonnBild: Thilo Beu

Im Vorfeld des Beethoven-Jubiläums im Jahr 2020 hat der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck Beethoven zur "nationalen Aufgabe" erklärt. Kann man aber dem Thema Beethoven überhaupt gerecht werden?

Bestimmt nicht – und das ist das Großartige daran! Man muss sich daran reiben, und da darf man nicht vor Furcht erstarren. Man muss das Thema anpacken, es fühlbar machen und Erlebnisse schaffen. Wenn man Beethoven nur anbetet und erstarrt, dann entsteht nichts Neues.

Bei der Vorbereitung des Jubiläumsjahres brodelt und gärt es in Bonn zurzeit…

Es brodelt und gärt in allen Bereichen und überall, und das ist auch gut so. Ich hoffe, dass es ein produktives und kreatives Gären ist, und im Moment stehen alle Zeichen dafür.

Aber das Gute an Beethoven ist, dass dieser Komponist mit so vielen positiven Ideen und Gedanken verbunden ist. Wir wissen, dass er sich auch missbrauchen lässt. Viele Diktatoren haben ihn benutzt und auch bewundert. Stalin und Hitler waren große Beethoven-Verehrer. Aber seine Gedanken zur Völkerverständigung, zur Freiheit, zum globalen Zusammenhalt: Alle diese Dinge sind äußerst modern, und die haben wir natürlich noch längst nicht alle umgesetzt.

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