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Wie die Kunst den Holocaust überlebte

Sarah Judith Hofmann 25. Januar 2016

Sie überstanden Ghetto, Versteck und Konzentrationslager. Jetzt sind sie in Berlin zu sehen: 100 Kunstwerke aus Yad Vashem. Zur Eröffnung erzählt eine der letzten Lebenden, warum sie damals malte.

Bildergalerie Kunst aus dem Holocaust
Bild: Collection of the Yad Vashem Art Museum, Jerusalem

Fröhlich sehen die beiden auf der Zeichnung aus. Ein Mädchen im bunt geblümten kurzen Kleid, an der Hand ihre Mutter. Auch sie trägt ein Sommerkleid mit Blumenmuster. Beide haben rote Wangen - wie Menschen, die viel Zeit an der frischen Luft verbringen. Mit Picknickkorb und Sonnenschirm am Arm spazieren sie über eine satte grüne Wiese, im Hintergrund ein Wald voller gesunder Bäume.

Es ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was Nelly Toll 1943 - zu dem Zeitpunkt, als sie diese Bleistiftzeichnung anfertigte - tatsächlich erlebt. Tatsächlich sitzt die damals Achtjährige mit ihrer Mutter in einem abgeschlossenen Zimmer, aus dem sie nicht heraus kann. Denn draußen machen die Nationalsozialisten, seit sie die ukrainische Stadt Lwiw 1941 besetzt haben, Jagd auf Juden. Die Familie Toll ist jüdisch. Zwei Jahre haben Nelly, ihre Mutter und ihr Bruder bereits im Ghetto verbringen müssen. Von dort ist der Bruder in einer der berüchtigten "Aktionen" verschleppt und - wie sie später erfahren werden - ermordet worden. Dann hat der Vater ein Versteck für Mutter und Tochter gefunden, bei christlichen Freunden in der Stadt. Es ist ihre Chance zu überleben. Aber sie können nicht raus. Der Spaziergang im Freien - ein Wunschtraum.

Nelly Toll ist die einzige noch lebende Künstlerin der Ausstellung.Bild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

Kunst, die überlebt hat – ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt

"Wir hatten sehr viel Zeit im Versteck und das Malen hielt mich beschäftigt. Die Personen, die ich malte, wurden zu meinen Freunden. Es war fast so, als könnte ich mit ihnen sprechen", erzählt Nelly Toll der DW bei ihrem Besuch in Berlin. "Ich war noch sehr jung, als ich den Horror des Ghettos erlebte. Doch während ich malte, dachte ich nie daran. Obwohl die Gefahr weiterhin ständig da war, versicherte meine Mutter mir: Alles wird gut, konzentriere dich nur auf deine Kunst. Und ich glaubte ihr."

"Mädchen im Feld" von Nelly Toll - ein TraumbildnisBild: Collection of the Yad Vashem Art Museum, Jerusalem

Die 81-Jährige ist aufgeregt. Eigens aus den USA ist sie angereist, um zu erleben, wie eines ihrer Werke in der Ausstellung "Kunst aus dem Holocaust. 100 Werke aus Yad Vashem" im Deutschen Historischen Museum gezeigt wird. Besonders aufgeregt ist sie, weil Angela Merkel die Ausstellung eröffnet. Nelly Toll bewundert die deutsche Bundeskanzlerin.

Merkel: "Die Freundschaft zu Israel ist ein Wunder"

"Die Bilder zeigen uns einen Alltag jenseits der Alltäglichkeit. Gesichter voller Schmerz, voller Trauer, aber auch voller Stolz", so Merkel bei der Eröffnung. In ihrer Rede betonte sie, Deutschland solle nie vergessen, "dass die Freundschaft zu Israel nicht selbstverständlich ist, sondern ein Wunder." Die Bilder bewegten uns bis heute "bis ins Innerste" – und genau das mache sie so wertvoll. "Das millionenfache Leid bleibt tief in unserem nationalen Gedächtnis haften", so die Kanzlerin. Museumschef Alexander Koch nannte die Bilder bei der Eröffnungsfeier ein "Licht aus der Vergangenheit".

Nelly Toll kommt kein Wort der Verbitterung über das Volk der Täter über die Lippen. Sie schaue sich in Deutschland um, erzählt sie, und sehe so viele junge Menschen auf der Straße, die alle lange nach der Hitler-Zeit geboren worden seien. Sie freue sich, in Deutschland zu sein.

Für die israelische Kuratorin der Ausstellung, Eliad Moreh-Rosenberg, ist es besonders wichtig, dass die Kunstwerke aus der Gedenkstätte Yad Vashem in Berlin zu sehen sind, "an dem Ort, an dem alles anfing", wie sie sagt. "Die Künstler hätten sich natürlich niemals vorstellen können, dass ihre Kunst der Welt gezeigt würde. Und sicherlich nicht in der deutschen Hauptstadt." Genau das sei aber sehr wichtig: "Die Botschaft dieser Kunstwerke ist, dass die Menschlichkeit gesiegt hat. Auch wenn so viele der Künstler selbst nicht überlebt haben."

Kunst aus dem Holocaust in Berlin

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50 Künstler – die Hälfte von ihnen wurde ermordet

Insgesamt 100 Werke werden in Berlin gezeigt – eine Auswahl aus rund 10.000 Objekten, die Yad Vashem in seiner Kunstsammlung besitzt. Sie stammen aus den Jahren 1933 bis 1945 und wurden sowohl in Verstecken wie dem von Nelly Toll, als auch in Ghettos und in Konzentrationslagern angefertigt. Sie stammen von 50 jüdischen Künstlern, darunter heute berühmte Maler wie Felix Nussbaum oder Leo Haas. Aber auch Neuentdeckungen wie Karl Robert Bodek oder Moritz Müller sind dabei.

26 von ihnen haben überlebt. 24 der in Berlin vertretenen Künstler wurden von den Nationalsozialisten umgebracht. "Das ist natürlich nicht repräsentativ", sagt Moreh-Rosenberg. "Die meisten jüdischen Künstler - ebenso wie die weitere jüdische Bevölkerung - wurden umgebracht." Die Auswahl sei nach rein künstlerischen Aspekten getroffen worden - nach Motiven, die besonders wichtig seien, erläutert die Direktorin der Kunstabteilung von Yad Vashem.

Die Ausstellung ist thematisch in drei große Themenbereiche gegliedert: "Wirklichkeit", "Porträt" und "Transzendenz". Die meisten der im ersten Kapitel gezeigten Werke entstanden unter Lebensgefahr in Lagern und Ghettos. Obwohl Stifte und Papier in den meisten Lagern verboten waren, gelang es den Künstlern, irgendwo Malutensilien aufzutreiben und heimlich das festzuhalten, was sie sahen. Häufig riskierten sie damit ihr Leben. Nicht wenige wurden - wie die Gruppe um Bedřich Fritta und Leo Haas in Theresienstadt - von den Nazis gefoltert und später ermordet, weil sie versucht hatten, Bilder aus dem Lager zu schmuggeln.

Ein Viertel aller Bilder, die den Holocaust überlebten, sind Porträts. Josef Kowner malte dieses Selbstporträt 1941 im Ghetto Lodz.Bild: Collection of the Yad Vashem Art Museum, Jerusalem

Die Zeichnungen halten das Eintreffen von Transporten fest, das persönliche Erleben von Folter, sie drücken das Gefühl von Verzweiflung aus. "Jedes Werk in dieser Ausstellung ist ein wichtiges Zeitzeugnis", sagt Moreh-Rosenberg, "und hat somit einen historischen Wert. Zugleich hat es aber auch einen künstlerischen Wert."

Die Seelen haben in der Kunst überlebt

Kunst aus dem Holocaust wieder als solche zu betrachten - und nicht nur als Zeugnis der NS-Zeit - ist eine recht junge Entwicklung, der auch schon im vergangenen Jahr, zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, eine Ausstellung im Bundestag Rechnung trug. "Was diese Kunst so besonders macht ist, dass wir hier - anders als in anderen Dokumenten - einen Einblick in die Psychologie der jüdischen Opfer bekommen, ihre Sehnsucht nach Schönheit und den Wunsch, in eine andere Welt zu entfliehen."

So gibt Kapitel zwei - über die ausgestellten Porträts - den Menschen in den Konzentrationslagern ein menschliches Antlitz zurück. Dies war den Künstlern ein wichtiges Anliegen. Rund ein Viertel aller aus dem Holocaust geretteten Bilder sind Porträts. Der Betrachter sieht auf ihnen nicht nur Opfer, sondern Menschen. "Sie wurden ermordet, doch ihre Seele hat in ihrer Kunst überlebt", sagt Moreh-Rosenberg. "Es ist unsere Pflicht diese Kunst der Welt zu zeigen."

Das letzte Kapitel "Transzendenz" zeigt die Sehnsüchte der Künstler. Zum Beispiel nach einem Zuhause - immer wieder taucht das Motiv des Hauses auf - oder nach Freiheit - zu erkennen im Motiv des Himmels. Für das Mädchen Nelly Toll, das nicht aus dem kleinen Zimmerchen des Verstecks herausdurfte, war der größte Traum, irgendwann wieder in freier Natur spazieren zu können, glücklich vereint mit ihrer Mutter. 1944 wurden die beiden befreit. Sie waren die einzigen Überlebenden der Familie. Nelly Toll studierte Kunst, blieb noch einige Jahre in Europa und emigrierte schließlich in die USA, wo sie noch heute als Dozentin an der Universität Kunst unterrichtet.

Bild: Collection of the Yad Vashem Art Museum, Jerusalem