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Annäherung beginnt mit umstrittenem Vertrag

Birgit Goertz13. November 2012

Nichts kann Leid ungeschehen machen. Aber eine Unterschrift kann Ungleichheit beseitigen. Am Donnerstag (15.11.2012) wurde ein Abkommen unterzeichnet, das NS-Opfer im ehemaligen Ostblock rechtlich gleich stellt.

Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau Foto: Dave Thompson/PA Wire +++(c) dpa - Report+++
Bild: picture-alliance/dpa

Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 musste Boris Rabiner seine Heimat in der Nähe von Vinnitsa in der Ukraine verlassen. Der damals 16-jährige floh zu Fuss und zu Pferd bis nach Kirgisistan. Zwei Jahre später trat er in die Sowjetarmee ein, kämpfte gegen die Deutschen, verlor ein Bein. Nach dem Krieg kehrte er in seine Heimat zurück, lehrte Geschichte. 1992 wanderte er in die USA aus. 1994 erhielt Boris Rabiner eine Einmalzahlung von rund 2.500 Euro. "Geld wollte ich nie“, sagt er. "Geld kann nicht wieder gut machen, was man uns angetan hat. Aber es ist nur fair und gerecht, dass ich dank der Anstrengungen der Claims Conference eine Unterstützung erhalten konnte, als ich sie am dringendsten brauchte.“ Mit vollem Namen heißt die Claims Conference "Conference on Jewish Material Claims Against Germany“. Sie entstand 1951 als Zusammenschluss von 23 jüdischen Organisationen, um mit den beiden deutschen Staaten über Entschädigungen zu verhandeln.

Späte Gleichstellung

Was an der Geschichte Boris Rabiners so bemerkenswert ist: Wäre er nicht in die USA emigriert, hätte er keine Ansprüche geltend machen können. Diese Gerechtigkeitslücke schließt die neue Regelung. Denn bislang konnten jüdische Überlebende mit Wohnsitz in den Ländern des ehemaligen Ostblocks keine Entschädigung aus dem Hardship Fund erhalten. Gedacht ist der Härtefonds unter anderem für Holocaust-Überlebende, die wie Boris Rabiner vor den Deutschen fliehen mussten. Den Fonds gibt es seit 1980, "um ein Mindestmaß an Gerechtigkeit für jüdische Opfer des Naziregimes zu erreichen" – so die Claims Conference

Die Wehrmacht marschiert in Kiew einBild: AP

Die Organisation rechnet damit, dass nun rund 80.000 Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion erstmals Entschädigungszahlungen aus dem Hardhsip Fund erhalten können. Zum Beispiel Samuel Goldstein (Name von der Redaktion geändert): Mit sieben Jahren floh er unter Lebensgefahr vor der herannahenden Wehrmacht: Die Deutschen bombardierten sogar die Züge mit den Flüchtlingen. Die Familie floh bis nach Kasachstan. Dort blieb er bis Anfang der 1980er Jahre. Dann kehrte er in die Ukraine zurück, seine Geschwister wanderten nach Israel aus. Samuel Goldstein konnte bislang keine Ansprüche auf eine Einmalzahlung von 2.556 Euro geltend machen, weil er blieb. Sein Schicksal ist kein Einzelfall. "Wichtig ist nicht allein der materielle Aspekt. Für die Betroffenen zählt, dass das Leid, das sie erfahren haben, erstmals offizielle Anerkennung erfährt", sagt eine Sprecherin der Claims Conference. Dabei sind die Menschen wie Samuel Goldstein oft hochbetagt und gebrechlich, leben in materieller Not und können das Geld gut gebrauchen. Bislang haben mehr als 355.000 jüdische Opfer der Shoa Zahlungen aus dem Hardship Fund erhalten, insgesamt gut 970 Millionen US-Dollar.

Auch die zweite Neuregelung des sogenannten Artikel-2-Abkommens bezieht sich auf jüdische NS-Opfer in Mittel- und Osteuropa. Bei diesem Personenkreis geht es unter anderem um Überlebende von Konzentrationslagern. Sie haben prinzipiell Anspruch auf eine monatliche Beihilfe in Höhe von derzeit 300 Euro. Nicht so die Betroffenen in Mittel- und Osteuropa. Sie erhielten bislang nur 260 Euro. Vom 1. Januar 2013 an werden ihre Renten angeglichen. Bis zum heutigen Tag wurden aus diesem sogenannten Artikel-2-Fonds rund 3,3 Milliarden US-Dollar an mehr als 85.000 Menschen gezahlt.

Ein nüchterner Name für soviel menschliches Leid

Doch warum heißt die Übereinkunft über die finanzielle Entschädigung von jüdischen Holocaust-Überlebenden eigentlich Artikel-2-Abkommen? Die Bezeichnung geht zurück auf die Zeit kurz vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990. Damals schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die DDR eine Zusatzvereinbarung. Am Verhandlungstisch saß für die westdeutsche Seite übrigens der jetzige Bundesfinanzminister Schäuble, seinerzeit Verhandlungsführer im Auftrag der Regierung Helmut Kohls. Im Artikel 2 dieser Vereinbarung verpflichtete sich die DDR erstmals, "für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste der Opfer des NS-Regimes einzutreten." Bis dahin hatte die DDR jegliche Verantwortung für den Holocaust abgestritten. Der Zusammenbruch des Ostblocks brachte den Betroffenen in Osteuropa jedoch keine rasche Entschädigung. Es dauerte bis zum Januar 1998, ehe jüdische NS-Opfer in Mittel- und Osteuropa erste Zahlungen erhielten.

August 1990: Der damalige Bundesinnenminister Schäuble und DDR-Staatssekretär Krause bei der VertragsunterzeichnungBild: picture-alliance/dpa

Der westdeutsche Staat hatte sich schon bald nach seiner Gründung verpflichtet, Holocaust-Überlebenden eine Entschädigung zu zahlen: "Im Namen des deutschen Volkes sind unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten", begründete Bundeskanzler Konrad Adenauer seinerzeit seinen Standpunkt. Nach sechsmonatigem Ringen und zähem politischen Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie in Israel wurde im September 1952 das Wiedergutmachungsabkommen unterzeichnet, auf dem alle Zahlungen bis zum heutigen Tag basieren und bei dessen Abschluss schon die Claims Conference am Tisch saß. Im Laufe der vergangenen 60 Jahre hat der deutsche Staat auf diese Weise mehr als 60 Milliarden Dollar für die jüdischen NS-Opfer zur Verfügung gestellt.

Besiegelt: Das deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen von 1952Bild: picture-alliance/dpa
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