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Politik

"Mehr Interesse für einander"

Thomas Spahn | Kersten Knipp
7. Oktober 2018

Die Politologin Judith Enders zieht im Interview der Woche ein gemischtes Resümee von fast 30 Jahren deutscher Einheit. Es gebe Probleme, aber eben auch Fortschritte. Wichtig sei vor allem eines: der Dialog.

Deutschland, Brandenburger-Tor, Maueröffnung 1989
Bild: picture-alliance/W.Kumm

Es war "eine wahnsinnige Euphorie", damals, als die Mauer fiel, "gepaart mit einer vielleicht geahnten Verunsicherung". Fast 30 Jahre ist er nun her, der Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik, kurz DDR, und anderer kommunistisch regierter ost- und mitteleuropäischer Staaten. 

Sie habe diesen Tag sofort als Zäsur empfunden, sagt Judith Enders, Politologin und Mitbegründerin der Initiative "Dritte Generation Ostdeutschland", im Interview der Woche. Der 9. November 1989, das war ein Tag, an dem sich das Leben fast aller Ostdeutschen verändern sollte: Sie alle erlebten eine politische Veränderung, wie sie radikaler kaum sein konnte. Sie rutschen aus einem kommunistischen in ein kapitalistisches System, wenn auch eines, das abgefedert war durch die soziale Marktwirtschaft.

"Also wirklich am 9.November schon habe ich gedacht: Oh, da war jetzt was ganz Entscheidendes", erinnert sich Enders. "Es war natürlich an dem Zeitpunkt nicht vorauszusehen wo das alles hinführt, aber es war ein Gefühl, eine Intuition und das ist so stark, dass ich heute noch weiß, wie es sich angefühlt hat gegen Abend am 9. November."

"Unbekannte, die merkwürdige Fragen stellten"

Die Veränderung, die an jenem 9. November einsetzte, war auch und vielleicht vor allem eine der politischen Kultur. Fortan herrschten keine politischen Benimm-Regeln mehr, fortan galt Meinungs- und Redefreiheit - ein gewaltiger Unterschied zum DDR-System, so Enders.

"Jede Person, die in der DDR gelebt hat, wusste, dass die öffentliche und die private Meinung ein wenig getrennt sind", sagt Enders. "Das hat man schon als Kind gelernt, das wusste man, sobald man in der Schule war: Man muss überlegen, wie man auf bestimmte Fragen antwortet." Etwa auf die Frage, wann man in der Familie die Nachrichten schaue. - die DDR sendete ihre um 19:30, die Nachrichten der großen beiden Sender in Westdeutschland um 19 oder um 20 Uhr."

"Am 9. November geschah etwas Entscheidendes": die Autorin und Politologin Judith EndersBild: DW

Bereits an der Antwort auf die harmlos scheinende Frage konnte man ahnen, welches Verhältnis der Befragte zu seinem Staat hatte, ob er eher den dort verbreiteten Nachrichten traute oder eher denen des Westfernsehens. "Für mich als Kind war das manchmal ein bisschen verwirrend, dass dann Personen auftauchten, die merkwürdige Fragen stellten", so Enders . "Aber ich würde sagen, jede Person war schon irgendwie darauf vorbereitet, dass es sowas geben kann wie eine gefährliche Situation.

Der Preis der Freiheit

Die "Wende", wie der Transformationsprozess nach 1989 genannt wird, brachte die politische Freiheit. Allerdings, berichtet Enders, mussten die ehemaligen DDR-Bürger auch von einigen vertrauten staatlichen Institutionen Abschied nehmen. "Es gab die soziale Sicherheit, die heutzutage nicht mehr so empfunden wird. Auch die Bundesrepublik ist natürlich ein Sozialstaat, aber trotzdem, die DDR war eine fürsorgliche, paternalistische Gesellschaft", erinnert sich Enders. Da musste man sich nie darüber Gedanken machen, die eigene Zukunft zu gestalten Auch Existenzangst kannte man nicht."

Eines sei allerdings klar gewesen: "Das war natürlich auch schwer bezahlt mit weniger Freiheit."

"Keine Ahnung, wann das anfing"

Der Zusammenbruch der DDR hat ein eigenes literarisches Genre hervorgebracht: den so genannten "Wenderoman". Diese Werke thematisieren die teils dramatischen Erfahrungen, die ehemalige Bürger während des Transformationsprozesses machten.

Auf anschauliche Art schildern sie die Hoffnungen und Ängste, die mit dem Zusammenbruch der DDR verbunden waren.

"Ich habe überhaupt keine Ahnung, wann das anfing mit der ganzen Scheiße" heißt es etwa in Sven Regeners Roman "Herr Lehmann". Dieser schildert den Zusammenbruch der DDR als überraschendes, weil lange Zeit unmerkliches Ereignis, das dann, als es offenbar wurde, umso erschütternder war. "Das ist das Komische daran. Das ist wie mit dem Untergang des römischen Reiches, da weiß auch keiner, wann das eigentlich anfing", geht es im Roman weiter.

Freiheit für alle: Feier zur Deutschen Einheit, Berlin, Oktober 2018Bild: Reuters/F. Bensch

Politisch brachte die Wende neue Freiheiten. Die hießen die meisten DDR-Bürger willkommen. Allerdings hatten sie, wie sich dann herausstellte, durchaus auch nostalgische Gefühle ihrem alten Staat gegenüber. Der mochte ein Gefängnis sein. Aber eines mit klaren Regeln, die niemanden überforderten. Diese "Nostalgie" greift der Schriftsteller Thomas Brussig in seinem Roman "Wie es leuchtet" auf: "Das Glück schmeckt fad inzwischen. Und wenn man das einem von euch erzählt, das wollen die nicht hören. Immer nur, wie schlimm es damals war und wie phantastisch jetzt. Aber so einfach ist es nicht. Ich werde nie dazugehören, das habe ich noch nie so deutlich sagen können."

Dialog mit den Eltern

Die Wende war schwierig, so sieht es auch Judith Enders. Sie hat ein Buch über den Zusammenbruch der DDR mit herausgegeben - "Wie war das für euch? Die Dritte Generation Ost im Gespräch mit ihren Eltern" heißt es. "Die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und Familiengeschichte hat bei vielen zu einer neuen Selbstwahrnehmung geführt und ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die eigene Identität verorten zu können", ist in der Einleitung zu lesen.

Ebenfalls trägt Enders das Projekt "Die Dritte Generation Ost" mit. Dieses will die Erfahrungen der Ostdeutschen bekannt machen - sowohl für westliche Leser, aber auch für solche aus der ehemaligen DDR: Sie sollen ihrer Erfahrungen miteinander vergleichen können. "Denn irgendwie ist es doch noch nicht so einheitlich, was man voneinander weiß", sagt Enders. "Man weiß oft nicht, wie die anderen gelebt haben, welche biographischen Besonderheiten sie in ihrem bisherigen Leben wahrgenommen haben." Das habe man mit der Initiative ändern wollen. "Mehr Kommunikation, mehr Offenheit und auch mehr Interesse für einander" - darum gehe es.

Rechtsextremismus - ein ostdeutsches Phänomen?

Viele Menschen in Westdeutschland haben den Eindruck, der Rechtsextremismus sei in Ostdeutschland sehr stark verbreitet - viel stärker als in den sogenannten "alten", den westlichen Bundesländern. Dem widerspricht Enders. Sie meint, das Problem des Rechtsextremismus sei ein gesamtdeutsches Phänomen, was sich im Osten mehr äußere, weil die Menschen dort ihre Ansichten offener äußerten. "Sie haben vielleicht weniger den Maulkorb der Political Correctness" auf." Darum müsse man den Rechtsextremismus als gesamtdeutsche Problematik sehen. Rechtsextreme Ansichten gebe es in ähnlicher Anzahl auch im Westen. "Nur werden sie dort nicht so laut und prononciert herausgerufen."

Rechtsextremismus: ein gesamtdeutsches Phänomen? Bild: picture-alliance/dpa/N. Holgerson

Es sei aber möglich, dass die schwierige ökonomische Situation im Osten den Rechtsextremismus fördere. "Dort gibt es unzufriedene Bürger, die sich nicht anerkannt fühlen und auch ihren gesellschaftlichen Platz nicht als stabil empfinden. Deshalb sind sie womöglich für Populismus anfällig. Ob sie für Rechtsextremismus anfällig sind, da bin ich mir nicht sicher."

"Perspektive hoch 3"

Derzeit engagiert sich Enders in dem Verein "Perspektive hoch 3". Die Mitglieder wollen zum einen die Vergangenheit ernst nehmen, aber auch in die Gegenwart schauen und die Zukunft gestalten.

"Uns ist es wichtig, den Blick zu weiten auch vielleicht den Dualismus Ost-West gegeneinander irgendwie aufzuheben." Die Integration von Ost und West ist ein langer Prozess. Nach 30 Jahren ist er noch immer nicht am Ende. Aber, so kann man Judith Enders verstehen, er hat Fortschritte gemacht.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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