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PolitikEuropa

Mehr Sicherheit mit Wehrpflicht?

11. Juli 2024

Fast ganz Europa hat die Wehrpflicht abgeschafft. Angesichts der Bedrohung durch Russland wollen einige Länder sie wieder einführen. Schafft das mehr Sicherheit?

Berešu-Marsch der Pulkveža Oskara Kalpaka Berufsschule
Strammstehen nach 24-Stunden-Marsch: Lettische Kadetten bei einer Übung im Mai Bild: Ēriks Kukutis/Verteidigungsministerium Lettland

Am 17. Juli könnte in Lettland das Los darüber entscheiden, wer zur Armee muss und wer nicht. Seit diesem Jahr gilt in dem baltischen Land wieder eine Wehrpflicht. Melden sich nicht genug Freiwillige für den 11-monatigen Dienst, dann wird die Armee junge Männer zwangsverpflichten.

Der Nachbar Litauen hat die Wehrpflicht schon 2015 wieder eingeführt, Schweden 2017. Und in Ländern wie Deutschland und Großbritannien wird diskutiert, ob man nicht zu ihr zurückkehren sollte. 

Vorbereitet für den Krieg

"Die Wehrpflicht ist ein großes Versprechen", sagt Sophia Besch von der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden in Washington DC. "Sie scheint der Weg zu sein, militärische Reserven aufzubauen, die man im Kriegsfall braucht." Viele europäische Armeen, darunter die deutsche, haben derzeit Probleme, genug Soldaten zu rekrutieren

Europa versucht, verteidigungsbereit zu werden, sagt Sophia BeschBild: Carnegie Endowment for International Peace

Eine Wehrpflicht, entstanden aus den Bürgerheeren der Französischen Revolution, schien in Europa nach Ende des Kalten Krieges unnötig. Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine hat sich das geändert. Die europäischen Länder fürchteten einen direkten Konflikt mit Russland, sagt Besch der DW. Darauf wollten sie vorbereitet sein. 

Hunderttausende sterben auf den Schlachtfeldern

"Lange hieß es, dass wir mehr Technologie brauchen und weniger Soldaten - die jedoch sollten hochgerüstet und hochprofessionell sein", sagt Besch. "Ich denke, wir brauchen beides. Wir brauchen die Technologie auf dem Schlachtfeld und wir brauchen mehr Truppen. Genau das zeigt uns der Krieg in der Ukraine."

Der russische Krieg gegen die Ukraine gilt als Abnutzungskrieg. Hunderttausende Soldaten sind bereits getötet worden. Und Russland schickt immer neue Rekruten an die Front, teilweise fast ohne Ausbildung. Das zeigt: auch wenn Drohnen und Überschall-Raketen im Einsatz sind: der Bedarf an Soldaten ist auch im modernen Krieg hoch.

Nach neun Monaten auf U-Boot-Jagd?

Kann eine allgemeine Wehrpflicht also die Lösung sein für europäische Armeen, die verzweifelt neue Rekruten suchen? Nein, meint der Konfliktforscher Vincenzo Bove von der Universität Warwick in Großbritannien. 

"Wenn man über moderne Kriegsführung nachdenkt, braucht man Hightech-Waffen und man braucht natürlich auch Soldaten, die sie bedienen können", sagt Bove der DW." Ein Wehrpflichtiger, dessen Ausbildung weniger als ein Jahr gedauert habe, sei dafür ungeeignet. "Sie sprechen von drei Monaten, sechs Monaten, vielleicht neun Monaten, was meiner Meinung nach nicht ausreicht, um die grundlegenden Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln", so Bove, der selbst als Offizier der italienischen Marine den Kampf gegen U-Boote gelernt hat.

Ohne Motivation in den Tod

Hinzu komme ein weiteres Problem, dass noch grundlegender sei, als der Mangel an Ausbildung und Erfahrung. "Wenn man junge Menschen zwingt, gegen ihren Willen in den Streitkräften zu dienen, gibt es offensichtlich mangelnde Motivation", sagt Bove. 

Blickt skeptisch auf die Wehrpflicht: Vincenzo Bove, Professor für Politikwissenschaft in WarwickBild: privat

Nur hoch motivierte Soldaten seien bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Und das könne entscheidend sein, um einen Krieg zu gewinnen. "Ich kann nicht erkennen, wie man wirklich sicherstellen kann, dass Wehrpflichtige letztendlich Waffen einsetzen, auf dem Schlachtfeld kämpfen und erfolgreich sein werden." Bove verweist auf die hohen Todeszahlen unter Zwangsverpflichteten der russischen Armee. Und zitiert Umfragen, laut denen viele junge Menschen auch im Falle eines Angriffs nicht bereit wären, ihr Land mit der Waffe zu verteidigen.

Kosten für Politik und Wirtschaft

Laut einer aktuellen Studie könnte es Deutschland bis zu 70 Milliarden Euro jährlich kosten, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Denn nicht nur Ausbilder, Kasernen und Uniformen sind teuer. Dass junge Leute nicht arbeiten, sondern dienen, schwächt die Wirtschaft.

"Wenn man über die Wehrpflicht nachdenkt, gibt es natürlich eine Menge Kosten", sagt Bove. Neben den wirtschaftlichen Kosten gebe es auch eine Art politischer Kosten. "Menschen, die zum Dienst gezwungen wurden, zeigen später ein geringeres Vertrauen in die Institutionen." Mit Kollegen hat Bove dies in einer wissenschaftlichen Studie untersucht. Er befürchtet, dass eine allgemeine Wehrpflicht auf Dauer die Demokratie in Europa schwächen könne.

Deutschland: Erneute Debatte über Wehrpflicht

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Bove lobt deshalb das schwedische Modell, das auf Freiwilligkeit setzt. Dabei wird unter allen Wehrpflichtigen nur zur Musterung eingeladen, wer eine hohe Motivation erkennen lässt. In zahlreichen Tests kann sich die Armee dann diejenigen aussuchen, die ihr am besten für den Dienst an der Waffe geeignet scheinen. So erhalte man zwar weniger Rekruten, aber im Laufe der Zeit eine sehr große Reserve an qualifizierten Soldaten.

"Bereitschaft zum Dienen fördern"

Auch Sophia Besch von der Carnegie-Stiftung teilt die Sorge, dass Zwangs-Verpflichtung zum Militär extremen Parteien in Europa Zulauf bescheren könnte. "Wenn Politiker die Wehrpflicht gegen den Widerstand der Bevölkerung durchsetzen, riskieren sie das. Vor allem in den Bevölkerungsgruppen, die direkt von der Wehrpflicht betroffen sind, also den Jugendlichen und ihren Eltern."

Länder, die über die eine Einführung der Wehrpflicht nachdenken, sollten sich an Finnland orientieren, meint Besch. "Sie sind so etwas wie der Goldstandard und haben eine lange Tradition der Wehrpflicht." Finnland ist erst 2023 der NATO beigetreten – war bis vor kurzem also militärisch auf sich allein gestellt. "Sie mussten eine wirklich starke nationale Reserve aufstellen, und das haben sie durch die Wehrpflicht getan", erklärt Besch. 

In Finnland ist die Motivation in der Bevölkerung, den Wehrdienst zu leisten und danach der Reserve beizutreten hoch. Das sei entscheidend, so Besch. "Man muss zuerst die Bereitschaft zum Dienen fördern und das Gefühl, dass es etwas gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt." Man könne nicht einfach junge Menschen bitten, für ihr Land zu kämpfen und möglicherweise zu sterben. "Das kann man nicht von oben herab durchsetzen." Es dürfte also noch lange Debatten geben, bevor europäische Länder wie Deutschland die Wehrpflicht wieder einführen.

Nicht jeder wehrpflichtige Ukrainer ist bereit zu kämpfen

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