Das Deutsch der Migranten
16. März 2012Migration verändert die deutsche Gesellschaft nachhaltig, sozial und kulturell. Sprache spielt dabei eine zentrale Rolle. Vor allem natürlich auf der Seite derjenigen, die Deutschland als neue Heimat gewählt haben. Sie müssen Deutsch lernen, um im Alltag zurecht zu kommen. Spracherwerb ist notwendig für die Teilhabe an der Gesellschaft, vom Brötchenkauf bis zum Kinobesuch. Außerdem gibt es ohne ausreichende Sprachkenntnisse keinen Aufstieg in der Berufswelt. Den Weg, sich diese Sprache anzueignen und die verschiedenen Formen, sie zu benutzen, hat das Institut für Deutsche Sprache, IDS, in Mannheim jetzt zum Thema seiner Jahrestagung gemacht: "Das Deutsch der Migranten". Auf der Konferenz vom 13. bis 15. März 2012 ging es aber nicht nur um die Zugezogenen aus anderen Ländern, sondern auch um die Auswirkungen des Miteinanders auf die Mitbürger und die Deutsche Sprache im Allgemeinen. Rund 400 Besucher aus 28 Ländern kamen nach Mannheim, um sich über die Entwicklung in Deutschland zu informieren.
Bereicherung statt Verfall
Die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese von der Uni Potsdam untersucht seit längerem Sprachgewohnheiten im urbanen Raum. Sie betonte das "Potential multiethnischer Sprechergemeinschaften". Ihr Institut hat im Internet ein eigenes Informationsportal zum "Kiezdeutsch" eingerichtet, einer deutschen Form der Jugendsprache. Entwickelt wurde sie durch den Kontakt unterschiedlicher Sprachen und Kulturen vor allem in speziellen Bezirken größerer Städte. Bekanntestes Beispiel: Berlin-Kreuzberg. Die Sprachwissenschaftlerin weist daraufhin, dass es ähnliche Entwicklungen auch in vielen anderen europäischen Ländern gibt. Kiezdeutsch sei also kein rein deutsches Phänomen. Typisch für die Jugendsprache sind unter anderem verschiedenste Satzverkürzungen und das Weglassen von Artikeln: "Bin ich Haltestelle Zoo ausgestiegen" statt "Ich bin an der Haltestelle Zoo ausgestiegen." In der öffentlichen Wahrnehmung gilt das schlicht und einfach als falsches Deutsch. In Dialekten werde jedoch ganz ähnlich verkürzt, ohne dass die Form als falsch betrachtet würde. Kiezdeutsch sei kein gebrochenes Deutsch, sondern zeige neben grammatischen Vereinfachungen viel Kreativität. Außerdem sei diese Form der Jugendsprache auch nicht an die türkische Bevölkerung gebunden, sondern "ethnienübergreifend".
Code-Switching
Imken Keim, Professorin im Ruhestand, hat in langjährigen Projekten die mehrsprachige Lebenswelt vor allem von türkischstämmigen Jugendlichen untersucht. Ihre Ergebnisse zeigen einen deutlichen Kontrast. Die Jugendlichen wechselten routiniert und souverän zwischen Deutsch und Türkisch. Darüber hinaus wählten sie je nach Thema und Gesprächspartner die jeweilige Sprache aus, benutzten Worteinschübe zur Ironie und Differenzierung. Dieses Switchen und Mixen werde von Außenstehenden oft als "Kuddelmuddel" wahrgenommen. Tatsächlich aber zeige sich hier Einfühlungsvermögen und durch die Variationsfähigkeit große Sprachkompetenz. Denn die Jugendlichen könnten frei wählen und seien nicht an eine Sprache gebunden. Wachsen Kinder mit noch mehr Sprachen auf, zeige sich sogar eine noch weitergehende Differenzierung in Rhythmik und Inhalt. Als Untersuchungsort und Anschauungsbeispiel dienten der Sprachwissenschaftlerin zwei Stadtbezirke Mannheims mit jeweils 12.000 und 15.000 Einwohnern. In den dortigen Schulen und Kindergärten liegt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 80 bis 90 Prozent.
In früherer Zeit hatten Spachwissenschaftler für Menschen, die bilingual aufwachsen, den Begriff "Doppelte Halbsprachlichkeit" geprägt. Der sei diffamierend und gehe an der Realität vorbei, betont Inken Keim, denn hier sei nichts halb oder unvollständig. Nachholbedarf gebe es allerdings bei den schriftlichen Fähigkeiten. Vor allem an Hauptschulen sei die Kompetenz, sich schriftlich auszudrücken, oft zu niedrig. Das aber sei ein Problem der schulischen Vermittlung und nicht automatisch mit dem Migrationshintergrund verknüpft.
Je früher, desto besser
Spracherwerb kann nicht früh genug einsetzen, vertritt auch der Sprachwissenschaftler Arnulf Deppermann vom IDS in Mannheim. Sein Appell an die Politik: Für die Sprachbildung in Kindergärten und Tagestätten muss mehr getan werden. In Bezirken mit hohem Migrantenanteil seien diese Einrichtungen oft die einzigen, in denen Kinder Deutsch hörten. Was hier verpasst werde, könnte später in der Schule nur mit großen Schwierigkeiten ausgebügelt werden. Für eine angemessene Förderung sei mehr und vor allem besser ausgebildetes Personal notwendig: "Die Kinder brauchen hinreichend Input". Das Konferenzthema sei daher auch nicht zufällig gewählt, so Deppermann. Der Zusammenhang von Sprachfähigkeit, Identitätsbildung und Integration sei offensichtlich. Sie zu verbessern, eine der großen aktuellen politischen Herausforderungen.
Vermittlung braucht Wertschätzung
Für Imken Keim gehört zum erfolgreichen Lernen auch die frühe Vermittlung, dass die Muttersprache etwas Wertvolles ist und Mehrsprachigkeit ein großes kulturelles und auch wirtschaftliches Kapital darstellt. Den Kindern müsse gezeigt werden: "Du kannst viel". Bisher werde die Bewertung ihrer Ausdrucksfähigkeit allzu oft an einem standardsprachlichen Deutsch-Ideal gemessen. Dadurch bekämen die Kinder ein defizitäres Selbstbild. Positives Feedback sei nötig und die beste Motivation zum Lernen.