Mein Berlinale-Tagebuch, 3. Tag
13. Februar 2011Der Samstag war der Tag der Deutschen. Im Wettbewerb lief am dritten Tag der Berlinale der Film "Schlafkrankheit" des gebürtigen Marburgers Ulrich Köhler, die Geschichte eines deutschen Entwicklungshelfers. Im Anschluss wurde der Film "Almanya" gezeigt, eine deutsche Produktion aus dem Jahr 2010 über eine Einwandererfamilie. So hätte man das noch vor zehn Jahren formulieren können. Heute müsste man das so beschreiben: Die Samstagsfilme des Wettbewerbs standen im Zeichen des Zusammenpralls der Kulturen. Zunächst zeigte der unter anderem in Zaire aufgewachsene und in Frankreich ausgebildete Ulrich Köhler einen Film über europäisch-afrikanische Befindlichkeiten. Danach lief das Spielfilmdebüt der Regisseurin Yasemin Samdereli, die von den ersten türkischen "Gastarbeitern" in der jungen Bundesrepublik erzählte.
Vieles hat sich verändert
Beides ist richtig, doch stimmt eigentlich nur der zweite Teil. Was ist da geschehen im Weltkino? Als ich vor 29 Jahren meine erste Berlinale besuchte, spielte die Einteilung in Länderkategorien noch eine wichtige Rolle. Im Rennen um den Goldenen Bären bewarben sich damals Filme aus Spanien und Italien, aus den USA und aus beiden Teilen Deutschlands. Ich erlebte direkt bei meinem Berlinaledebüt einen Goldenen Bären "für" Deutschland: Rainer Werner Fassbinders "Lola" schlug damals für viele überraschend renommierte Konkurrenten wie Sydney Pollack USA), Zoltán Fábri (Ungarn) oder Kei Kumai aus Japan. Natürlich gab es auch damals schon Co-Produktionen, große Filmnationen wie Frankreich und Italien steckten nicht selten gemeinsam Geld und Engagement in eine Produktion.
Heute ist alles anders. Die Filmwelt ist zusammengewachsen. Das betrifft aber nicht nur die Produktion, also die Filmfinanzierung. Vor allem die Lebensläufe der Regisseure haben sich immer mehr von einer eindeutig verorteten Biografie entfernt. Und das spiegelt sich dann eben auch in den Themen der Filme wider. Der diesjährige Festivalsamstag war ein Beleg dafür. "Schlafkrankheit" ist ein Film über einen schon Jahre in Kamerun lebenden deutschen Entwicklungshelfer, der sich im Laufe der Zeit afrikanischen Lebensgewohnheiten angepasst hat und mit großen Problemen zu kämpfen hat, weil er wieder nach Deutschland zurückkehren soll. Im zweiten Teil von Köhlers Spielfilm steht ein in Paris geborener Franzose mit kongolesischen Wurzeln im Mittelpunkt. Beide Charaktere treffen dann aufeinander. Der Regisseur zeigt uns in diesem Film, dass es hier schon lange nicht mehr um eindeutige geografische Zuordnungen geht. Der "weiße" Deutsche ist inzwischen viel mehr mit afrikanischen Gegebenheiten vertraut als der "schwarze" Franzose, der sich in Kamerun wie ein Fremder bewegt - eben weil er Europäer ist und erst seit ein paar Tagen im Land ist. Köhler verzahnt sehr intelligent die verschiedenen Kulturen miteinander, zeigt uns Zuschauern, dass nicht der Geburtsort oder der Paß entscheidend sind für die Verwurzelung der Menschen, sondern die individuelle, ganz persönliche Biografie.
Multi-Kulti im Film
Auch "Almanya - Willkommen in Deutschland" ist ein Beleg für dieses Zusammenrücken des Weltkinos. Die Regisseurin heißt Yasemin Samdereli - eine gebürtige Dortmunderin. Ihr Film schildert die Geschichte einer türkischen Familie in Deutschland - von den fünfziger Jahren bis heute. War sich die erste Generation noch ihrer türkischen Identität sicher, so löst sich das bei den nachwachsenden Generationen mehr und mehr auf. In einer Szene fragt der kleine Enkel den Opa, der gerade einen deutschen Paß bekommen hat: "Was sind wir denn nun, Türken oder Deutsche?". Die Antworten fallen unterschiedlich aus - dem Kleinen kann nicht recht geholfen werden. Yasemin Samderelis Film beginnt als überspitzte, witzig-klamottige Komödie und schwenkt dann um in eine emotional-melancholische Familiensaga. Auch "Almanya - Willkommen in Deutschland" schert sich nicht um eindeutige Antworten auf die Fragen nationaler Identitäten. Weil es sie im 21. Jahrhundert so auch gar nicht mehr geben kann.
Eine große Tageszeitung hat zu Beginn der Berlinale säuberlich aufgelistet, wie viele Bärengewinner es seit Beginn des Festivals aus den einzelenen Nationen gab, wie viele Bären nach Frankreich gingen, nach Deutschland, in die USA. Diese Statistiken haben in Zukunft keinen Wert mehr. Nicht nur die Berlinale zeigt dies deutlich. Auch die anderen großen Festivals haben in den letzten Jahren mehr und mehr "multikulturelle" Filme im Programm. Autoren und Regisseure erzählen ihre Geschichten - ganz reale, autobiografische, fiktive Stoffe. Und diese Geschichten handeln heute eben kaum noch von Menschen, die einem einzigen Land zuzuordnen sind. Grenzen lösen sich auf - vor und hinter den Kameras. Filmfestivals wie die Berlinale spiegeln diese Entwicklung wider.
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Annamaria Sigrist