Mein Berlinale-Tagebuch: der neunte Tag
18. Februar 2012Am Freitag habe ich noch gefühlte 75 Gespräche geführt. Mit Kollegen. Das hat Tradition. Wenn der Wettbewerb beendet ist und bevor die Jury ihr Urteil fällt, kommt die große Zeit des Spekulierens. Wer bekommt den Goldenen Bären? Wer war die beste Schauspielerin, wer der überzeugendste Darsteller? Welche Überraschungen zaubert die Jury noch aus dem Hut? In diesen 24 Stunden zwischen Wettbewerb und Bärenabend darf jeder seine Favoriten nennen.
Andere Antennen als die Kritiker
Bevor ich nun meine ganz persönlichen Lieblinge und die vermeintlichen der Jury preisgebe, noch eine Anmerkung. Jurys entscheiden (fast) immer anders als die professionellen Kritiker. Das mag Außenstehende verblüffen, sehen doch alle die gleichen Filme und lieben das Kino. Jurys haben aber andere Antennen, andere Kriterien. Das liegt ganz einfach daran, dass dort Schauspieler und Schriftsteller und Künstler anderer Couleur sitzen. Selbst Regisseure blicken anders auf die Arbeiten ihrer Kollegen als wir Kritiker. Das vergangene Jahr bildete da die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigte. Der iranische Film „Nader und Simin“ hatte damals alle überzeugt. Auch weil die Qualität der übrigen Filme so erbärmlich war. Die war in diesem Jahr übrigens besser.
Ginge es also nach den Kritikern, dürfte es eigentlich nur einen Sieger geben: Christian Petzolds „Barbara“. Der lag in den Ranglisten aller Tages-Zeitungen und Festivalblätter eindeutig vorn, auch bei der internationalen Presse. Ich glaube aber nicht, dass die Geschichte um die von Nina Hoss verkörperte aufmüpfige Ärztin in der DDR der 80er Jahre den Hauptpreis bekommt. Das würde nicht zu Mike Leigh, dem kritisch-engagierten Regisseur mit dem manchmal scharfen, manchmal liebevollen Blick auf schrullige Existenzen in sozialen Nöten passen. Ich tippe daher auf einen Film wie „L' enfant d'en Haut“ von Ursula Meier, mögliche Außenseiterchancen räume ich auch noch „Just the Wind“, „Tabu“ und „Postcards from the Zoo“ ein.
Keine Trostpreise: Die Silbernen Bären
Alle diese Filme und vielleicht noch „Aujourd'hui“ und „Captive“ könnten auch einen Silbernen Bären gewinnen. Die gibt's nämlich noch in rauen Mengen, für besondere künstlerische Leistungen. Keine Trostpreise sind das, sondern vielmehr Auszeichnungen, die dafür sorgen, dass nicht nur ein strahlender Sieger am Ende des Festivals dasteht.
Außer „Barbara“ wäre ich sehr dafür, dem dänischen Film „Eine königliche Affäre“ einen Preis zu geben. Da vertrete ich aber eine Minderheitenmeinung. Ein Bär für den Dänen wäre eine faustdicke Überraschung. „Barbara“ wird sicherlich – so meine Vorhersage – einen Silbernen Bären gewinnen, weil es sich immer auch schickt, einen heimischen Film mit irgendetwas auszuzeichnen. Petzolds Film dürfte die Jury also nicht ganz leer ausgehen lassen.
Hoss und Duvall? Oder Seydoux und Horn?
Natürlich wäre Nina Hoss auch eine geeignete Kandidatin für einen Darstellbären, ebenso übrigens wie Léa Seydoux, die gleich in zwei Wettbewerbsbeiträgen mitspielt und Corinna Harfouch. (Eine Außenseiter-Chance hat auch noch Agathe Bonitzer). Den Preis für die beste männliche Darstellung könnte Robert Duvall („Jayne Mansfield's Car“) bekommen oder natürlich Thomas Horn („Extrem laut und unglaublich nah“). Das hätte auch den Vorteil, dass eine US-Produktion ausgezeichnet würde. Ein Bär zumindest geht immer in die USA, Hollywood soll ja bei der Stange gehalten werden.
Das alles ist natürlich reine Spekulation. Es hat in den vergangenen Jahren immer wieder Jurys gegeben, die uns alle mit ihren Entscheidungen sprachlos gemacht haben. Und es könnte auch sein, dass der Film „Rebelle“ über Kindersoldaten in Afrika einen Bären bekommt. Dann wäre ich allerdings wirklich sprachlos. Den hab ich nämlich verpasst! Morgen mehr…
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Annamaria Sigrist