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Gesellschaft

Auf einmal waren alle Flüchtlingsfreunde

Zhang Danhong
18. Mai 2017

Ein Buch über die Flüchtlingskrise steht seit Wochen an der Spitze der Bestseller-Liste. Mit dem Autor Robin Alexander erinnert sich Zhang Danhong an den Herbst 2015, als sie ihre zweite Heimat nicht mehr verstand.

Deutschland Flüchtlinge in Passau
Bild: Getty Images/AFP/C. Stache

Am 1. Oktober 1949 rief Mao Zedong vom Tor des Himmlischen Friedens die Volksrepublik China aus. Seine Kernbotschaft: "Das chinesische Volk hat sich erhoben. Wir werden nie wieder eine gedemütigte Nation sein!" 300.000 Menschen jubelten ihm zu.

An diese Bilder musste ich denken, als ich im September 2015 im Fernsehen sah, wie Menschen am Münchner Hautbahnhof die ankommenden Flüchtlinge beklatschten und einige sogar die deutsche Nationalhymne anstimmten. "Das deutsche Volk hat sich erhoben", war für mich die zentrale Botschaft. "Wir werden nie wieder eine Nation von Nazis sein!"

"Vergangenheitsbewältigung durch Flüchtlingshilfe" - das war nicht nur mein erster Gedanke. Das schreibt auch Robin Alexander in seinem Buch "Die Getriebenen" über Angela Merkel und ihre Flüchtlingspolitik. Im Gespräch mit mir sucht der Korrespondent der Zeitung "Welt am Sonntag" nach weiteren Erklärungen für den deutschen Rausch im Herbst 2015.

Korrespondent der "Welt am Sonntag" und Buchautor Robin AlexanderBild: Gudrun Senger

Flüchtling - ein positiv besetzter Begriff

"Das Wort 'Flüchtling' ist in Deutschland aus verschiedenen Gründen sehr positiv aufgeladen", sagt Alexander. Die politische Linke verbinde mit dem Begriff "Flucht" den antifaschistischen Kampf. "Man identifiziert sich mit Migranten. Der populäre Bundeskanzler Willy Brandt war ein Immigrant." Die politische Rechte hingegen besetze das Thema mit den Vertriebenen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Schließlich waren Millionen Deutsche damals selbst Flüchtlinge. Sogar in der religiösen Erzählung löse der Begriff "Flüchtling" positive Assoziationen aus. Auch die heilige Familie sei vom Geburtsort Jesu nach Ägypten geflohen, um dem Kindermord des Königs Herodes zu entgehen.

Hinzu kam im Sommer 2015 in einigen ostdeutschen Bundesländern eine rechtsradikale Welle der Gewalt, die in Westdeutschland die Sehnsucht nach einer doppelten Abgrenzung hervorrief. Robin Alexander erklärt das so: "Als Westdeutscher kann ich nicht sagen: Ossis sind doof. Das ist Binnenrassismus. Aber wenn ich sage, ich will anders sein als diese Ost-Nazis, dann hebe ich mich ab."

Das erinnert an die "Zwei-Seelen-Theorie" von Thomas Mann. Den "Fall Deutschland" hält dieser für "so verwirrend und kompliziert, weil Gutes und Böses, das Schöne und Verhängnisvolle sich darin in der eigentümlichsten Weise vermischen". Für mich selbst war die Geburtsstunde des Weltmeisters der Menschlichkeit auch der Moment, mit meinen lieb gewonnenen Deutschen zu fremdeln. Gibt es wirklich nur die Extreme 'Anzünden von Flüchtlingsheimen' oder 'Flüchtlingshilfe bis zur Selbstaufgabe' - und dazwischen gar nichts mehr?

DW-Redakteurin Zhang DanhongBild: V. Glasow/V. Vahlefeld

Weder Opposition noch kritische Medien

Die Parteien im Bundestag stellten sich geschlossen auf die Seite des Guten. "Ein paar Wochen lang kennen die Deutschen keine Parteien mehr, nur noch Flüchtlingsfreunde", schreibt Alexander in "Die Getriebenen". "Merkel macht die Grenze auf. Die Linkspartei und die Grünen fordern noch mehr. Das ist Unsinn. Die Opposition hätte Fragen stellen müssen", sagt mir der Journalist und Buchautor. Seiner Meinung nach hätte im Bundestag eine namentliche Abstimmung stattfinden müssen. "Diejenigen, die dann 'Ja' gesagt hätten, hätten das auch ihrem Wahlkreis erklären müssen." Immerhin haben die FDP und die AfD erklärt, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen, sollten sie im Herbst in den Bundestag einziehen.

Von der Willkommensstimmung haben sich auch die meisten Journalisten anstecken lassen. Wer in der Anfangszeit Kritik an der Grenzöffnung übte, wurde der Ausländerfeindlichkeit und des Rechtsextremismus bezichtigt. "Das war ein Fehler", meint Robin Alexander, "denn die journalistische Haupttugend ist Skepsis. Die Journalisten hätten sich von Stimmungen freimachen müssen."

Regiert wird nach den Umfragen

Der Hurra-Journalismus nährte die Euphorie in der Bevölkerung; die Euphorie bestimmte die Umfragewerte; und nach den Umfragen regiert die Kanzlerin. "Ganz früher haben die Politiker Zeitungen gelesen. Gerhard Schröder sagte immer, das sei sein Bauchgefühl. Angela Merkel hingegen analysiert die Umfragen", erzählt der in Berlin lebende Journalist.

Bis die Stimmung nach der Silvesternacht 2015/16 in Köln kippte und die Schließung der Balkanroute den Flüchtlingsstrom weitgehend zum Versiegen brachte. Inzwischen erleben wir die semantische Meisterleistung der Kanzlerin, dass man keinen Fehler gemacht habe, aber sich die Situation im Jahr 2015 nicht wiederholen dürfe.

Das politische Sachbuch liest sich wie ein KrimiBild: Siedler

Dass Robin Alexander diese Flüchtlingspolitik kritisch sieht, daraus macht er weder im Buch noch in unserem Gespräch einen Hehl. Doch als eine Abrechnung mit Angela Merkel will er sein Buch nicht verstanden wissen. Er berichte seit acht Jahren über Angela Merkel, erzählt er. Oft werde er gefragt, wie die Bundeskanzlerin so sei im persönlichen Gespräch. "Mit der Flüchtlingskrise hat sich diese Frage verändert. Plötzlich lautet die Frage: 'Was ist los mit ihr?' Einige fragen sogar: 'Ist sie verrückt geworden?' Darauf wollte ich eine Antwort geben."

Das Kapitel ist noch nicht abgeschlossen

Dass sein Buch innerhalb von zwei Monaten bereits die 7. Auflage erlebt und seit Wochen die Bestseller-Liste anführt, zeigt ihm, dass die Deutschen mit dem Thema noch nicht fertig sind. "Sie wollen wissen, was eigentlich passiert ist." Das wollen übrigens auch viele Chinesen. Niemand, mit dem ich gerade in China gesprochen habe, könnte sich vorstellen, die chinesische Grenze auch nur für einen einzigen Tag für jedermann von außen durchlässig zu machen.

Wie ist es dann in Deutschland zu der Grenzöffnung gekommen? Warum wurde die Grenze über Wochen hinweg nicht wieder geschlossen, obwohl man sich in Berlin genau darauf längst geeinigt hatte und die dafür notwendigen Polizeikräfte schon vor Ort bereit standen? Wieso wurde aus einer Ausnahme ein Ausnahmezustand? Antworten auf diese Fragen finden sich in diesem realen Politthriller, der von der ersten bis zur letzten Seite den Leser fesselt.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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