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Gesellschaft

Mein Deutschland: Ein Volk von Moralisten

Danhong Zhang
30. September 2016

Typisch deutsch ist, jede beliebige Diskussion schnell auf eine moralische Ebene zu heben. Der Vorteil: Alle können mitreden. Und das Böse ist schnell identifiziert. Das irritiert unsere Kolumnistin Zhang Danhong.

Bild-Kombo Bayer Monsanto
Bild: Getty Images/S. Gallup, Getty Images/AFP/J. Thys

Ich hätte nie gedacht, dass über einen geplanten Klassenausflug derart kontrovers diskutiert werden kann. Kaum hatte die Lehrerin die Fahrt zum Bayer-Werk verkündet, runzelten einige Mütter die Stirn. "Mein Kind lasse ich nicht in ein Chemie-Werk gehen", sagte eine Mutter entschlossen. "Wissen Sie nicht, was Bayer in Brasilien angerichtet hat?" Die vorwurfsvolle Frage einer anderen Mutter ging in Richtung der Lehrerin. Die Unterstützer des Ausflugs waren moralisch unterlegen und schauten verschämt zu Boden. Die verängstigte Lehrerin stand kurz davor, die Veranstaltung abzublasen, da bot ich an, mich gemeinsam mit den Kindern in die Höhle des Löwen zu begeben, um sie vor einer möglichen Gehirnwäsche zu bewahren.

In Leverkusen ging es dann um die verschiedenen Getreidesorten (zum Anfassen) und die unterschiedlichen Ernährungskulturen. Zum Schluss hieß es: "Um die wachsende Weltbevölkerung satt zu bekommen, brauchen wir einen effektiven Pflanzenschutz. Die Firma, in der Ihr Euch befindet, stellt genau solche Mittel her." Da die Kinder ohnehin an der Grenze ihrer Aufnahmekapazität waren, sparte ich mir die Mühe, die Bayer-Mitarbeiterin als Propagandistin für die Chemie-Industrie zu entlarven. Zu Hause schrieb ich den Eltern einen ausführlichen Bericht und sicherte ihnen zu, dass kein bleibender Schaden bei unserem Nachwuchs zu befürchten sei.

Eine Stunde Naturkunde im Bayer-WerkBild: DW/D.Zhang

Diesen Schulausflug meiner jüngeren Tochter vor drei Jahren hätte ich beinahe vergessen, wenn sich der Agrarchemie-Konzern nicht seit kurzem den bösen Buben in der Branche einverleiben wollte und deswegen ein Aufschrei durch die Bundesrepublik gegangen wäre: Bayer will das US-Unternehmen Monsanto übernehmen, das Glyphosat und genverändertes Saatgut herstellt - das ist doch igitt hoch zwei! "Eine tödliche Vereinigung" oder "Ein schwarzer Tag für die Welternährung" lauteten daher die Schlagzeilen in der vorvergangenen Woche.

Wozu diese Aufregung?

Für solche Aufregung habe ich wenig Verständnis. Als Lokalpatriotin bin ich froh, dass ein Konzern wie Bayer in meiner Nähe beheimatet ist, der gut bezahlte Jobs anbietet und das Kulturleben in der Region fördert. Was die geplante Hochzeit mit Monsanto anbelangt, so finde ich es durchaus logisch, wenn sich Hersteller von Pflanzenschutzmittel und Saatgut zusammentun. Außerdem sollte die dann erreichte Größe Bayer davor schützen, von Konkurrenten als leichte Beute ausgemacht zu werden. Wie hart in der Branche gerungen wird, zeigt die Übernahme des Schweizer Chemie-Riesen Syngenta durch Chemchina in diesem Mai.

DW-Redakteurin Zhang Danhong

Schließlich geht es um nicht weniger als die Versorgung der Weltbevölkerung, die jährlich um über 80 Millionen Menschen wächst. Um die bald neun Milliarden und in einigen Jahrzehnten elf Milliarden Menschen satt zu bekommen, muss die Effizienz in der Landwirtschaft gesteigert werden. An Pflanzenschutzmitteln und genverändertem Saatgut kommt man meiner Meinung nach nicht vorbei.

Das kollidiert jedoch mit den ethisch-moralischen Vorstellungen vieler Bundesbürger. Nachdem das Todesurteil für die Atomkraftwerke gesprochen wurde und auch das Vollstreckungsdatum feststeht, ist nun Gentechnik das neue Reizwort und markiert die Trennlinie zwischen den Moralisten und den Skrupellosen. Komisch nur, dass Gentechnik im Rest der Welt längst angewandt und akzeptiert wird.

Immer wieder der deutsche Sonderweg

"Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun", hat Richard Wagner einmal gesagt. Da ist was Wahres dran. Das hat etwas Heroisches, aber auch etwas Sprunghaftes. So wurde vor fünf Jahren in der Folge der Katastrophe von Fukushima die Energiewende eingeleitet, obwohl kurz zuvor gerade die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert worden war. Und die EU-Partner werden neuerdings zu einer Quotenregelung in der Flüchtlingsfrage gedrängt, obwohl die Bundesregierung genau eine solche Lösung lange blockiert hatte. Sobald die Deutschen aber etwas als moralisch geboten sehen, ziehen sie es mit einem religiösen Eifer durch - ohne Rücksicht auf Verluste. Die Bundeskanzlerin schimpfte vor einem knappen Jahr sogar "dann ist das nicht mein Land", weil viele Deutsche in der Flüchtlingskrise ihrem spontanen moralischen Imperativ nicht folgen wollten. 

"Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituation ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land", sagte Angela Merkel im Herbst 2015.Bild: Anas Modamani

Der moralische Imperativ hat jedoch etwas Verlogenes, weil er nicht bis zur letzten Konsequenz durchgesetzt werden kann. So hält die Kanzlerin die Fahne der Willkommenskultur formell weiterhin tapfer hoch, doch währenddessen arbeitet sie längst mit anderen Europäern zusammen an der Abschottung. Und wenn wir ehrlich sind: Was nützt es, wenn wir in Deutschland den letzten Atommeiler abschalten, während um uns herum neue Atomkraftwerke gebaut werden und wir an einem kalten, windstillen Wintertag von dort unseren Strom beziehen? Ganz nebenbei hat der moralische Sieg der Atomkraftgegner die deutschen Energieversorger (RWE, Eon usw.) beinahe ruiniert.

Nach der Energiewende bald eine "Agrarwende"?

Vielleicht hat Bayer das Schicksal der Energiekonzerne als warnendes Beispiel vor Augen und hält sich durch die Übernahme von Monsanto schon mal einen Fluchtweg offen. Denn wer weiß, wie weit sich die Politik noch durch die grüne Moral treiben lässt? Die Hinweise auf eine kommende "Agrarwende" sind nicht zu übersehen. Wie ist sonst die Stimmenthaltung der Bundesregierung in Bezug auf die weitere Zulassung von Glyphosat in der EU zu erklären, obwohl sie sich vorher eindeutig dafür entschieden hat? Ein Flirt der Kanzlerin mit den Grünen?

Ich fände es schade, wenn ein deutsches Traditionsunternehmen wie Bayer seinen Firmensitz in die USA verlegen würde. Aber was heißt schon ein deutsches Unternehmen? So wie auch einige andere Dax-Konzerne gehört Bayer bereits heute mehrheitlich amerikanischen Investoren. Nur noch gut ein Drittel der Aktien der größten deutschen Firmen werden von Deutschen gehalten. Lieber halten die Deutschen ihr Moralmonopol. An den Erfolgen ihrer Unternehmen beteiligen sich andere.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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