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Gesellschaft

Mein Deutschland: Lügen- oder Lückenpresse?

Zhang Danhong
7. September 2017

Es hagelt Medienschelte. "Lügenpresse", das Unwort des Jahres 2015, geistert weiter durch die Republik. Auch Kolumnistin Zhang Danhong hadert mit ihrer Zunft und hat sich im Urlaub mit Medienkritik auseinandergesetzt.

Deutschland Zeitungsständer in Düsseldorf
Bild: picture-alliance/dpa/M. Gerten

Mein Mann hält mich für verrückt: "Wie kannst Du am Strand Tabellen und Grafiken lesen?" Sie stammen aus der aktuellen Studie "Die Flüchtlingskrise in den Medien" der Otto-Brenner-Stiftung. Über die Kollegen der Printmedien wird darin ein vernichtendes Urteil gesprochen: einseitig, parteiisch und unprofessionell.

Bild: Westend

In dieselbe Richtung, nur zehnmal heftiger, geht die Kritik des Publizisten Jens Wernicke. Er hat die provokante Frage "Lügen die Medien?" an 24 Journalisten und Wissenschaftler gestellt. Diese Interviewsammlung ist in diesen Tagen im Westend-Verlag erschienen. Wernicke ist gewiss nicht als PEGIDA-Anführer bekannt. Im Links-Rechts-Denkmuster lässt er sich eher im linken Lager verorten. Dennoch bejaht er seine selbst gestellte Frage. "In der Summe, klar ja - auch wenn es Etliches zu differenzieren gibt", sagt er mir im Gespräch.

Das kann ich so nicht stehen lassen. Auf das Wort "Lügen" reagiere ich ähnlich allergisch wie einige Journalisten und Publizisten, die in Wernickes Buch zu Wort gekommen sind. Ich nehme für mich in Anspruch, in meiner bisherigen beruflichen Laufbahn nie gelogen zu haben. Und ich kenne jede Menge Journalisten, für die ich die Hand ins Feuer legen würde, dass auch sie nie bewusst die Unwahrheit verbreitet haben. "Der Begriff 'Lügenpresse' unterstellt dem einzelnen Journalisten ein Fehlverhalten. Und weil angeblich sehr viele Journalisten nicht adäquat arbeiten, entsteht daraus ein Massenphänomen, die 'Lügenpresse' eben. Das ist mir zu simpel." (Ulrich Teusch)

Die Liste der bekannten Lügen lässt sich fortsetzen

Es stimmt, an der Verbreitung der Brutkastenlüge vor bald 30 Jahren haben sich die Journalisten breit beteiligt. Demnach hätten irakische Soldaten bei der Invasion Kuwaits im August 1990 kuwaitische Frühchen getötet. Diese Schauergeschichte hatte damals Nayirah as-Sabah im US-Kongress tränenreich erzählt. Später stellte sie sich als eine PR-Erfindung heraus, um den Krieg gegen den Irak zu rechtfertigen.  

Medienwissenschaftler und Buchautor Jens WernickeBild: Privat

"Insbesondere zu Kriegszeiten vernachlässigen die Medien ihre Recherchepflicht", sagt mir Jens Wernicke. Das Problem ist nur, dass nicht jeder Zeitungsverlag oder Fernsehsender die Ressourcen hat, um eine solche Lüge zu entlarven. Leider haben die Medien auch nicht daraus gelernt, dass einzelne, nicht überprüfbare Aussagen mit Vorsicht zu genießen sind. Und das Muster hat sich seither in jedem Krieg wiederholt.

Dass die Wahrheit immer das erste Opfer im Krieg ist, hat auch mit der menschlichen Vorliebe für ein Feindbild zu tun. "Wenn man weiß, wer der Böse ist, hat der Tag Struktur", lautet ein bekannter Kalauer des Kabarettisten Volker Pispers. So ist für die Masse der Journalisten in der Ukraine-Krise ausschließlich Putin der Böse und  Assad ist es im Syrien-Krieg. Alles, was nicht diesem Schema entspricht, droht das Publikum nur zu verwirren und wird von den Medien deswegen gerne übersehen. "Das Massaker von Odessa hätte Stoff für mehrere ARD-Brennpunkte und ZDF-Spezials geboten. Stattdessen wurde es mehr oder weniger unter den Teppich gekehrt, weil es nicht ins Narrativ passte." (Ulrich Teusch) Anfang Mai 2014 waren in der Schwarzmeer-Metropole mindestens 42 pro-russische Demonstranten ums Leben gekommen, nachdem ukrainische Nationalisten das Gewerkschaftshaus in Brand steckten, in dem sie Zuflucht gesucht hatten.

Nachrichten oder Werbung?

Die Praxis des Weglassens bestimmter Fakten bezeichnet Teusch als Lückenjournalismus. Er zitiert ein Bonmot aus dem englischen Sprachraum: "Nachrichten sind Dinge, von denen jemand nicht möchte, dass sie gedruckt werden. Alles andere ist Werbung… Warum wird selbstverständlich darüber berichtet, wenn die Bundesregierung neue Kita-Plätze schafft? Und warum fällt so manche brisante Wikileaks-Enthüllung durchs Raster?"

DW-Redakteurin Zhang DanhongBild: V. Glasow/V. Vahlefeld

Ein anderes Paradebeispiel für den Lückenjournalismus liefert die Berichterstattung über die Flüchtlingskrise. Die Leser der überregionalen deutschen Zeitungen hatten teilweise das Gefühl, dass es sich dabei um eine Podiumsdiskussion handelte, bei der allein Politiker der Regierungskoalition zu Wort kamen. Authentisch und vor Ort recherchierte Berichte machten nur sechs Prozent der Berichterstattung aus. "Bis zum Spätherbst 2015 greift kaum ein Kommentar die Sorgen, Ängste und auch Widerstände eines wachsenden Teils der Bevölkerung auf. Wenn doch, dann in belehrendem oder auch verächtlichem Ton", heißt es in der Studie der Brenner-Stiftung.

"Jeder orientiert sich am anderen, keiner will aus der Reihe fallen, alle wollen dazu gehören", erklärt mir Jens Wernicke den Grund für die Einförmigkeit des Mainstream-Journalismus. Das hat auch damit zu tun, "dass Journalisten in der Regel keine Revolutionäre sind, sondern Väter oder Mütter, die ihrer Arbeit nachgehen, ihr Brot verdienen und nicht sehr anecken oder auffallen wollen".

Das Ergebnis sind eine "Hofberichterstattung in Folge allzu enger Kontakte mit Politikern…, die Tendenz zu Selbstgleichschaltung und Meinungshomogenität durch Ausgrenzung allzu deutlicher Abweichler". (Daniela Dahn)

Abweichler geben entnervt auf

Nicht nur Abweichler, auch leise Zweifler werden zur Disziplin gerufen. Vor kurzem verkündete mein Lieblingskolumnist Harald Martenstein, dass er aufhören werde, sich als Autor für das Zeit-Magazin in politische Diskussionen einzumischen. Er sei es leid, jedes Mal mit einer langen Liste von Änderungswünschen aus der Redaktion konfrontiert zu werden, wenn er die Nebenwirkungen der Willkommenskultur thematisiere. Wieder einer weniger, der nicht nur über den universellen Humanismus schwadroniert, sondern einfach dem gesunden Menschenverstand Nachdruck verleiht. Das macht mich traurig.

Journalisten "lügen nicht - sie verkürzen, unterschlagen, verdrehen und verfälschen", urteilt der langjährige Nahost-Korrespondent des ZDF, Ulrich Tilgner, hart. Wenn das zuträfe, dann wäre es eigentlich müßig, zwischen Lücken und Lügen zu unterscheiden. In ihrer Wirkung laufen beide auf dasselbe hinaus - nämlich ein verzerrtes Bild, meint Ulrich Teusch.

Die Studie der Otto-Brenner-Stiftung ist deprimierend, während das Buch von Jens Wernicke schmerzt. Man muss nicht alle darin vertretenen Thesen teilen. Aber zur Pressefreiheit gehört auch die Freiheit zur Kritik an der Presse. Als ein kleines Rad im großen Medienbetrieb versuche ich, zwei Vorschläge aus dem Buch zu beherzigen: "Journalisten sollten vor allem mit der Wahrheit verheiratet sein - und nicht mit ihren Medienunternehmen oder -anstalten." (David Goeßmann) Und es ist "immer wichtig, genau darauf zu achten, wer in der Berichterstattung tötet, getötet wird oder einfach umgekommen ist". (Sabine Schiffer)

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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