Mein Deutschland: Mao live und in Farbe
8. September 2016"Was soll ich mit einer Leiche?" war die Reaktion meiner jüngeren, im Moment alles in Frage stellende Tochter, nachdem ich angekündigt hatte, in diesem Urlaub unbedingt das Mao-Mausoleum besuchen zu wollen. Meine große Tochter fand es hingegen cool, Geschichte auf diese Art und Weise kennen zu lernen. So warteten wir den Tag ab, an dem weder die Sonne scheint (sonst riskiert man in der Warteschlange einen Hitzschlag) noch strömender Regen angesagt ist. Und der Tag kam.
Das Mausoleum befindet sich an der südlichen Seite des Tian'anmen-Platzes. Die Warteschlange beginnt an einer Stelle, an der kein Überblick über ihre Gesamtlänge möglich ist. Sofort werde ich von einer Sicherheitsfrau angesprochen: "Bitte geben Sie Ihre Handtasche dort drüben ab." Ihre Hand zeigt auf eine andere lange Schlange. Meine große Tochter spricht ein Machtwort: "Nein, wir stellen uns nicht zweimal an. Wenn Du nicht reingelassen wirst, wartest Du eben draußen auf uns. Du kennst das alles ja schon."
Geschichtsstunde in der Warteschlange
So unauffällig wie möglich stellen wir uns wieder ans Ende der Schlange. Meine Handtasche halte ich, wie der Name es schon sagt, in der Hand. In drei Reihen sollen sich die Menschen innerhalb der Absperrung nach vorne bewegen. Tatsächlich sind es mindestens fünf in einer Reihe. Ich beginne mit meinem Geschichtsunterricht, wie Mao die Nationalisten im Bürgerkrieg besiegte und die Volksrepublik ausrief, wie er dann das Land durch politische Kampagnen in Katastrophen führte.
Einzelne Menschen drängeln sich an uns vorbei. Eine Frau bückt sich unter das Seil, verlässt die Reihenformation, rennt ein paar Schritte nach vorne und drängt sich wieder in die Schlange hinein, ohne von den Sicherheitsleuten und anderen Wartenden abgemahnt zu werden. In Deutschland wäre sie längst durch Worte und Blicke geächtet worden.
Inzwischen stehen wir bereits 40 Minuten. Das dichte Gedränge und der heiße Atem der Menschen rings herum treiben mir Schweißperlen auf die Stirn. "Gleich biegen wir ab, dann sind wir da", versuche ich die Kinder zu beschwichtigen. Von wegen. Dann sehen wir erst, dass die Schlange viel, viel länger ist als gedacht. "Was machen sie alle hier? Ist der Eintritt umsonst oder was?" fragt die Jüngste in ihrem üblichen Pubertier-Ton. Aber genau das könnte eine Erklärung für den Andrang sein: Denn was sonst kann man im kapitalistischen China heute noch kostenfrei besuchen? Das Jubiläumsjahr (vor 40 Jahren starb Mao Zedong) spielt sicherlich auch eine Rolle. Und es halten sich hartnäckige Gerüchte, dass Mao bald in seiner Heimat bestattet werden soll. "Wie hast Du damals von seinem Tod erfahren?" Dankbar nehme ich die Frage meiner großen Tochter auf und schwelge in Erinnerungen.
Als wäre es gestern gewesen
Am 9. September 1976 ging ich, damals zehn Jahre alt, nachmittags wie immer zur Schwimmschule im Arbeiterstadion in Peking. Ich hatte mich etwas verspätet und fand einen verschlossenen Eingang vor. "Geh nach Hause. Heute wird nicht trainiert. Um 16:00 wird eine wichtige Nachricht verkündet", sagte meine Trainerin. Um nach Hause zu kommen, musste ich in einem weiten Bogen um das Stadion herumlaufen. Die Straßen waren menschenleer. Als ich am Haupttor vorbei kam, sah ich auf dem Gelände Tausende auf dem Boden sitzen. Die tiefe Stimme eines Nachrichtensprechers tönte aus dem Lautsprecher. Aus der Ferne verstand ich kaum ein Wort. Auf einmal begann ein Massenschluchzen. Schnell wurde es zu einem dröhnenden Heulen. Der Boden bebte.
Mir wurde unheimlich. Ich rannte nach Hause. Unten stieß ich auf meine Oma, die gerade auf einen Nachbarsjungen aufpasste. Mit ernster Miene sagte sie: "Der Vorsitzende Mao hat uns verlassen." Im Treppenhaus dachte ich, es würde mich nicht wundern, wenn der Himmel morgen einstürzen würde. Was hatten wir für ein Jahr? Erst starb Premier Zhou Enlai, dann General Zhu De, es folgte das große Erdbeben Ende Juli, und nun hatte auch noch der oberste Führer des Landes das Zeitliche gesegnet. Dabei hatte ich nie gedacht, dass sein Herz jemals aufhören könnte zu schlagen.
Die nächsten Tage litt ich unter meinem Unvermögen, Tränen für den Vorsitzenden zu vergießen. Ich konnte nicht um jemanden weinen, den ich persönlich nicht kannte. Aber nicht nur das. Die Massenhysterie hatte für mich etwas Urkomisches. Manchmal hatte ich Mühe, das Lachen zu unterdrücken. Bald entwickelte ich eine geniale Technik: Ich vergrub meinen Kopf in die Arme und bewegte die Schulter. So konnte keiner wissen, ob ich dabei lachte oder weinte. Die erste Möglichkeit zog Gott sei Dank niemand in Betracht.
Das Warten hat ein Ende
Während ich erzähle, nähern wir uns dem Ziel. "Gibt es auch ein Mausoleum für Deng Xiaoping? Er ist mir sympathischer als Mao!" Schon fängt die Kleine an, die Gegenwartsgeschichte Chinas zu werten. Ich erkläre ihr, dass Mausoleen dieser Art Ausdruck eines Personenkults sind und auch in China der Vergangenheit angehören. Außerdem wird Mao ein eher entspanntes Verhältnis zum Tod nachgesagt. Ob ihm diese pompöse Gedenkhalle recht ist?
Nach anderthalb Stunden ist es endlich so weit. Aber vorher müssen wir noch durch die Sicherheitskontrolle. Noch ist nicht sicher, ob ich mitkommen darf. Ich drücke meiner großen Tochter die Tasche schnell in die Hand: "Ausländern gegenüber sind die Chinesen nachsichtiger." Meine Rechnung geht auf. Ein junger Chinese schaut zuerst den Inhalt der Handtasche, dann meine Tochter an und sagt schließlich: "Okay."
In der Vorhalle bilden wir eine Zweierreihe. Dann geht alles ruckzuck. Der Ordnungsmann scheucht uns schnell an Mao vorbei. Kaum sind wir draußen, macht meine jüngere Tochter ihrem Unmut Luft: "Willst Du mich veräppeln? Anderthalb Stunden Warten für die paar Sekunden? Außerdem war der doch niemals echt. Das war doch nur eine Wachsfigur!"
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
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