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Gesellschaft

Mein Deutschland: Missbrauchte Nächstenliebe

Danhong Zhang
7. Dezember 2016

In Freiburg wurde eine Studentin vergewaltigt und ermordet. Der mutmaßliche Täter ist ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Zhang Danhong appelliert an die Politik, über eine neue Aufnahmepraxis nachzudenken.

Deutschland  Freiburg getötete Studentin
Bild: picture-alliance/dpa/W. Rothermel

Immer, wenn die Medien über ein schweres Verbrechen von einem Flüchtling und die Reaktionen der Politiker darauf berichten, habe ich das Gefühl, wie ein doofes Kind behandelt zu werden. Da sagt der Vizekanzler Sigmar Gabriel: "Solche abscheulichen Morde gab es schon, bevor der erste Flüchtling aus Afghanistan oder Syrien zu uns gekommen ist." Echt? Das hätte ich nun wirklich nicht gedacht! Kanzlerin Merkel warnt vor Hetze gegen Flüchtlinge. Klar, denn wenn die Großeltern sechs Millionen Juden ermordet haben, besteht natürlich immer die Gefahr, jederzeit von Populisten verführt zu werden.

Da meine Großeltern selber Opfer von japanischen Nazis waren, bin ich von diesem Verdacht befreit und darf laut sagen, dass mich der Fall von Freiburg unendlich betroffen und wütend macht. Betroffen, weil auch ich eine Tochter habe, die wie die getötete Maria studiert, gerne Partys besucht und öfter um zwei Uhr morgens mit dem Fahrrad nach Hause zurückkehrt. Wütend, weil der mutmaßliche Täter zu genau der Gruppe von Flüchtlingen gehört, denen die größte Fürsorge des deutschen Staates zugutekommt. Für jeden unbegleiteten Minderjährigen geben die Kommunen monatlich 3000 bis 5000 Euro aus, um eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu garantieren. Familienministerin Manuela Schwesig hat die deutschen Familien aufgerufen, diese Heranwachsenden aufzunehmen. Viele sind dem Aufruf gefolgt. Darunter die Familie aus Freiburg, die dem 17-jährigen Afghanen ein neues Zuhause geboten hat. Auch Maria L. war in der Flüchtlingshilfe aktiv. Deswegen ist für mich diese brutale Tat der Gipfel des Missbrauchs der Nächstenliebe.

Vielleicht ist das der Grund, warum der Fall die Gemüter so sehr erhitzt - auch wenn die Tagesschau ihn noch Wochenende eher für ein Ereignis von regionaler Bedeutung und nicht berichtenswert hielt. Nach dieser Logik dürfte eigentlich auch kein einzelner Fall der gelungenen Integration den Weg in die bundesweite Berichterstattung finden - zu kleinteilig und lokal. Dem ist aber nicht so. Man braucht nur den Fernseher anzuschalten. Man hat den Eindruck, dass die öffentlich-rechtlichen Sender alles tun, um ja keinen Zweifel an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung aufkommen zu lassen.

Der grüne Politiker Boris Palmer ist erfrischend ehrlich, sorgt aber für Stirnrunzeln in der eigenen ParteiBild: picture-alliance/dpa/Christoph Schmidt

Abweichende Meinung nicht erwünscht

Wenn sich jemand wie der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer aufregt, "dass unsere großzügige Hilfe missbraucht wurde", dann wird ihm von Parteifreunden der Eintritt in die AfD empfohlen und er von einigen Medienvertretern als der "Donald Trump der Grünen" bezeichnet.

Dieses "Wenn Du gegen die Flüchtlingspolitik bist, bist Du ein Nazi"-Denkmuster verhindert eine sachliche Diskussion über die Aufnahmepraxis hierzulande, die jeden akzeptiert, auch wenn er offensichtlich gar keinen Asylgrund hat, aus keinem Kriegsgebiet stammt und den deutschen Staat betrügt. So berichtet mir eine Mitarbeiterin in einem Flüchtlingsheim, dass viele Bewohner dort eine falsche Identität angeben. Einmal wurde eine ganze Busladung voller unbegleiteter Minderjähriger zum Jugendamt geschickt und wieder zurückgebracht, weil nach näherer Untersuchung kein einziger unter 18 war. Sie sagt, dass besonders Afghanen gerne ihr Alter nach unten drücken, weil ihr Antrag, bleiben zu dürfen, anders als bei den Syrern eine deutlich geringere Erfolgschance hat. Sie dann aber im Falle der Ablehnung bei Minderjährigkeit nicht abgeschoben werden. Ich fürchte, dass nicht einmal dem mutmaßlichen Mörder von Freiburg eine Abschiebung bevorsteht, falls seine Schuld bewiesen wird - weil er angeblich erst 17 ist.

DW-Redakteurin Zhang Danhong

Wer Schutz braucht, muss nicht lügen

Ich wage die These, dass seine Identität nicht verfälschen muss, wer in Deutschland wirklich Schutz sucht. Warum lässt der Staat nicht nur Flüchtlinge einreisen, die sich ausweisen können? Kann ein Flüchtling oder ein politisch Verfolgter nicht vor Ort in der deutschen Botschaft Asyl beantragen? Ich weiß, es gäbe Konflikte mit dem geltenden Asylrecht. Aber muss ein Gesetz nicht der Realität angepasst werden? Und ist die Praxis des unbegrenzten Zuzugs wirklich rechtskonform? Warum hält Deutschland in diesem Bereich den eigenen Sonderweg für den einzig wahren? Eins ist sicher: Indem wir jedem, der nur die Schlepper ordentlich bezahlt und es bis an die deutsche Grenze geschafft hat, ein Verfahren gewähren und ihn im Falle der Ablehnung nicht konsequent abschieben, berauben wir uns der Möglichkeit, mehr der wirklich Verfolgten und Schutzbedürftigen aufzunehmen.

Um sie geht es doch letztendlich - sowohl im Asylrecht als auch in der Genfer Flüchtlingskonvention. Nun werden diejenigen, die vor Krieg oder Verfolgung geflohen sind und Teil der deutschen Gesellschaft werden wollen, durch Fälle wie in Freiburg in Mitleidenschaft gezogen und unter Generalverdacht gestellt. Sicherlich ist die rechte Ecke groß genug, um alle Deutschen, die um junge Flüchtlinge einen weiten Bogen machen, dort zu verorten. Aber wie kann man von den Menschen verlangen, genau zu differenzieren, wenn der Staat selbst nicht zur Unterscheidung willens ist: zwischen den wirklich Schutzbedürftigen und denjenigen, die nur unsere Nächstenliebe missbrauchen wollen.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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