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Gesellschaft

Mein Deutschland: Vom Schmatzen und Schnäuzen

Zhang Danhong
6. April 2017

Was gehört sich? Und was gehört sich nicht? Die Antwort darauf kann je nach deutscher oder chinesischer Sichtweise ganz unterschiedlich ausfallen. Ein paar Beispiele von unserer Kolumnistin Zhang Danhong.

Erkältung Büro Mann mit Taschentuch Nase putzen
Bild: Colourbox

Als Helmut Kohl 1984 während seiner China-Reise eine Rede an der Peking-Universität hielt, saß ich als Germanistik-Studentin im Publikum. Mittendrin hörte er plötzlich auf zu sprechen, holte hinter dem Rednerpult ein Taschentuch heraus und - ich traute meinen Augen und Ohren nicht - schnäuzte laut und ausgiebig. Ein Raunen ging durch den Saal. Die Professoren und Studenten der Elite-Universität in China waren, gelinde ausgedrückt, entsetzt.

Ähnlich erging es meinem Mann, als er sich bei seinem ersten Restaurant-Besuch in Peking von einer Geräuschkulisse aus Schmatzen, Schlürfen und Rülpsen umgeben sah.

In China gilt das Schlürfen als Teil des GenussesBild: picture-alliance/Photoshot/J. Liangkuai

Je nach Land und Region fallen die Kriterien für gute oder schlechte Manieren unterschiedlich aus. Auch die jeweilige Epoche spielt eine Rolle. Mittelalterliche Ritter durften noch rülpsen. Erst vor knapp 500 Jahren führte der Holländer Erasmus von Rotterdam umfangreiche Benimmregeln ein. Seitdem gilt das möglichst geräuscharme Speisen als manierlich. Diese Stille würde so manche chinesischen Gastgeber zum Grübeln bringen - schmeckt es den Gästen gar nicht?

Küssen verboten

Während im Reich der Mitte das Schmatzen zum guten Ton gehört, wird hingegen der Austausch von Zärtlichkeit in der Öffentlichkeit verpönt. Deutsche Austauschschüler müssen sich in China auf ein Kuss- und Schmuseverbot auf dem Schulgelände einstellen, sofern sich Paare unter ihnen befinden. Schließlich sorgen sich die chinesischen Lehrer auch um Nachahmereffekte.

DW-Redakteurin Zhang DanhongBild: V. Glasow/V. Vahlefeld

Wenn deutsche Jugendliche in chinesischen Familien untergebracht werden, staunen sie oft nicht schlecht, dass sich die asiatischen Gleichaltrigen an die Worte der Eltern halten und nicht im Traum daran denken, ihnen zu widersprechen.

In konfuzianisch geprägten Gesellschaften stellt das Alter an sich einen Wert dar und verdient Respekt. Als selbstverständlich gilt daher in China, in Bahn und Bus älteren Menschen den eigenen Sitzplatz anzubieten. In Deutschland bin ich mit diesem Reflex paarmal ins Fettnäpfchen getreten. Einmal nahm eine Frau mein Angebot mit einem gequälten Lächeln an und sagte zu ihrem Mann: "Ich werde schon für eine alte Frau gehalten." Daraus habe ich inzwischen die Lehre gezogen und entscheide nun je nach Gebrechlichkeit des Gegenübers von Fall zu Fall.

Am besten am Stichtag

Dass eine gut gemeinte Handlung nicht unbedingt gut ankommt, erlebt ein Chinese hierzulande auch, wenn er einem Deutschen schon vor dem eigentlichen Datum zum Geburtstag gratuliert. Seien Sie bitte nicht böse, wenn Ihnen so etwas mit einem Chinesen widerfährt. Der kann ja nicht wissen, dass eine vorzeitige Gratulation nach dem deutschen Volksglaube Unglück bringen könnte. In China gehört es sich nämlich absolut nicht, seine Glückwünsche nachträglich auszusprechen. Denn das legt den Verdacht nahe, dass einem der Geburtstag des Freundes zu spät eingefallen ist.

Gibt man hierzulande eine Geburtstagsparty oder eine sonstige Feier, öffnet man die Geschenke der Gäste in der Regel sofort. Sonst zeigt man Desinteresse am Geschenk oder gar am Gast. In Fernost hingegen gibt sich der Gastgeber der Lächerlichkeit preis, wenn er das Mitgebrachte unverzüglich auspackt (Unter Freunden ist es natürlich anders). Wie gierig und primitiv, würde sich der Schenkende denken. Öffnet der Beschenkte die Mitbringsel erst im stillen Kämmerlein, hat das zudem den Vorteil, keine Freude vorgaukeln zu müssen, falls ihm das Geschenk nicht zusagt.

Sofort aufmachen oder erst später?

Sich mit negativen Aussagen über Präsente zurückzuhalten, das verbindet beide Völker. Einem geschenkten Gaul schaut man bekanntlich nicht ins Maul. Ebenso zurückhaltend sind die Deutschen bei der Kommentierung des Aussehens von Gesprächspartnern, vor allem, wenn es sich um nicht vorteilhafte Aspekte handelt. Oder haben Sie schon mal Ihrer Nachbarin gesagt "Mensch, Du bist aber dick geworden"? Mit der guten Nachbarschaft wäre es dann wohl erst einmal vorbei.

Wahrheit tut weh

Ganz anders die Chinesen. Meine Töchter führen inzwischen im China-Urlaub Statistiken darüber, wie oft sie Bemerkungen hören wie "Du hast deutlich zugenommen" oder "Diese Frisur macht Dich alt". Ich habe bis heute nicht begriffen, wieso sich Chinesen derart ungehemmt über Äußerlichkeiten auslassen, wo sie doch sonst Meister darin sind, ihre Emotionen und Gedanken zu verbergen.

Ihre echte Meinung halten die Asiaten stets im Bereich des Ungefähren, so dass man sie selbst nach dem Abschälen der Höflichkeitsschichten nur ahnen kann. Aus chinesischem Munde hört man selten Aussagen wie "Das sehe ich anders" oder "Was Du gemacht hast, finde ich nicht okay". Das letztere würde als ein Frontalangriff verstanden und könnte das Ende einer Freundschaft einleiten.

Ich bin nicht Botschafterin Chinas!

Was die Chinesen tief verletzen würde, ist für die Deutschen Alltag. Mit ihrer unverblümten Direktheit habe ich jahrelang gehadert - vor allem wenn ich als Anlaufstelle für jede Form der Kritik an China missbraucht werde. Das passiert immer dann, wenn die Volksrepublik wieder einmal im Fokus deutscher Medien steht. Dann bekomme ich Anrufe von deutschen Bekannten: "Ich bin mit dem, was Deine Regierung macht, nicht einverstanden." Meine Standardantwort lautet: "Das geht mir ganz genauso. Übrigens ist meine Regierung auch Deine, da ich schon seit langem deutsche Staatsbürgerin bin."

Helmut Kohl traf sich 1984 mit Deng Xiaoping - am nächsten Tag folgte der legendäre Auftritt an der Peking-UniversitätBild: picture-alliance/dpa

So sind eben viele Deutsche: Mit Halbwissen und unter medialem Einfluss muten sie sich in nahezu allen Bereichen Urteile zu. Da möchte ich den guten alten Helmut Kohl lobend erwähnen: Immer wieder hat er moniert, dass das China-Bild in Europa nur aus lauter Schablonen bestehe. Dafür sind ihm die Chinesen dankbar. Das laute Schnäuzen haben sie ihm übrigens längst verziehen.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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