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Mein Deutschland: Zum Lesen verführen

Zhang Danhong26. November 2015

Ende November ist Vorlesetag: Prominente und normale Bürger besuchen Schulen, um Kindern dort vorzulesen. Unsere Kolumnistin Zhang Danhong folgert, dass Bücher lesen in Deutschland keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Symbolbild Lesen
Bild: picture alliance/dpa/B. Settnik

Es ist ein illustrer Kreis: ein Jurist, ein Mediziner, ein Banker, ein Unternehmer, ein Manager und ein Germanist. Alle sechs sind in Düsseldorf bekannte Persönlichkeiten. 2011 gründeten sie einen privaten Literaturzirkel. "Wir sind alle in einem Alter des Übergangs aus der Berufstätigkeit in eine freiere Tätigkeit. Das heißt, wir sind nicht untätig, obwohl wir im so genannten Ruhestand sind", sagt Volkmar Hansen, bekannter Thomas-Mann-Forscher und Experte für Heinrich Heine und Johann Wolfgang von Goethe. Mit seinen Zirkel-Freunden begibt er sich in das Abenteuer der modernen Literatur.

Alle ein bis zwei Monate treffen sie sich im Düsseldorfer Industrieclub. Dort diskutieren sie intensiv über die ausgewählte Lektüre und legen sich auf den nächsten Gesprächsstoff fest. "Man kann sich darauf verlassen, dass die Bücher gelesen werden. An den Details erkennt man es ja", erzählt Volkmar Hansen. Zwar habe er als Literaturwissenschaftler einen kleinen Vorsprung methodischer Art, aber für alle sei es die spannende Erstlektüre eines Buches und er lerne viel von den anderen Perspektiven.

Die neueste Lektüre des Literaturzirkels: "Altes Land" von Dörte HansenBild: KNAUS

Solche Leseclubs sind in Deutschland keine Seltenheit. Sie erhalten das Bild von Deutschland als einem Land der Leser hartnäckig am Leben. Immerhin findet mit der Frankfurter Buchmesse das weltgrößte Buchevent vor unserer Haustür statt, immerhin greift fast jeder achte Deutsche täglich zu einem Buch - wenn auch mit sinkender Tendenz.

Vor allem unter den Jugendlichen ist das Lesen aus der Mode gekommen. Das hat zwei Gründe: erstens ist bedrucktes Papier im Vergleich zu Smartphone oder iPad so was von uncool; zweitens scheint die Zeit zwei Geschwindigkeiten zu haben - bei den Elektrogeräten rennt sie schneller davon, so dass für Bücher kaum Zeit übrigbleibt.

Jedes Buch eröffnet eine neue Welt

Wie gut habe ich es in meiner Kindheit und Jugendzeit in China gehabt! Das Ablenkungsrisiko tendierte gegen Null. Nicht mal einen Fernseher hatten wir. Zum Shoppen fehlten sowohl das Geld als auch das Angebot. Da blieb nur die Hausbibliothek, die auf mich fast mystisch wirkte. Also verkroch ich mich ganze Nachmittage und in den Ferien ganze Tage in einer Ecke, um ein Buch nach dem anderen zu verschlingen. Manches war für mich noch unverdaulich, zum Beispiel die chinesische Übersetzung von Goethes "Faust". Aber ganz oft war es ein Festmahl. Bei "Jean Christophe" von Romain Rolland und "Anna Karenina" von Leo Tolstoi vergaß ich alles um mich herum. Das ist der Unterschied zwischen Büchern und Filmen. Von den Menschen auf der Leinwand kannst Du Dich verzaubern lassen, sie bleiben aber auf Distanz; mit den Romanfiguren kannst Du eins werden, Du tauchst ein in ihre äußere wie innere Welt. So war ich in jenen Tagen nicht nur Anna Karenina, erlebte auch das Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ihre Augen.

DW-Redakteurin Zhang Danhong

Dieser Genuss des unbeschwerten Lesens ist den chinesischen Jugendlichen von heute nicht mehr gegönnt. Sie ächzen unter der Last der Hausaufgaben und der Prüfungen. Zudem haben sie dieselben Ablenkungen wie die gleichaltrigen Deutschen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass in China mehr Wert auf das Lesen gelegt wird als hierzulande. So bekommen chinesische Mittelschüler eine Liste von über 300 empfohlenen Büchern aus den Bereichen Literatur, Geschichte, Philosophie, Kunst usw. Ein Drittel davon ist Pflichtlektüre, der Rest Kür. Die Liste wird zusammengestellt von Universitäten, Verlagen und der Gesellschaft für Bildung. Deutschsprachige Autoren sind zum Beispiel durch Michael Ende, Anne Frank, Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig vertreten.

"Schocke Deine Eltern, lies ein Buch"

In Deutschland halten sich die Schulen mit solchen Listen zurück. Wahrscheinlich, weil sie davor zurückschrecken, sich mit den Eltern anzulegen. Wenn Eltern schon protestieren, weil ihre Kinder ein längeres Gedicht auswendig lernen sollen, dann kann man sich kaum vorstellen, welche Entrüstung eine solche Liste auslösen würde. Da müssen sich Bibliotheken, die unter gähnender Leere leiden, stattdessen verrückte Kampagnen ausdenken wie "Schocke Deine Eltern, lies ein Buch", um Kinder zum Lesen zu animieren.

Oder sie zum Lesen zu verführen - das ist das Motto der Fricke Stiftung für Bildung und Kultur, die der Kölner Unternehmer Peter Fricke vor fünf Jahren gemeinsam mit seiner Frau ins Leben gerufen hat. Einmal im Jahr organisiert er eine Jugendbuch-Lesewoche im Kölner Stadtteil Sülz. Lokale Autoren kommen in die Grundschulen und weiterführende Schulen, um Kindern und Jugendlichen aus ihren Büchern vorzulesen. "Einmal las der Autor in einem dicken Sessel, die Kinder hatten sie auf Turnbänke gesetzt. Nach einer halben Stunde saßen die Kinder alle um ihn herum. Sie waren so fasziniert, sie hingen ihm an den Lippen, wollten ihn anfassen und ausfragen", berichtet Peter Fricke. Dass lokale Autoren dadurch gefördert werden, sei der gute Nebeneffekt.

Unternehmer und Stiftungsgründer Peter FrickeBild: DW/Danhong Zhang

Auch die Aktivitäten des Düsseldorfer Lesezirkels haben einen positiven Nebeneffekt: Nach dem Lesen verschenkt Volkmar Hansen die Lektüre an seine Kinder. "Sie brauchen vielleicht einen kleinen Anstupser. Aber dann lesen sie", sagt der Germanist mit einem Schmunzeln.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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