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Politik

Annalena Baerbock ist Orbáns Schreckgespenst

István Váncsa
22. Mai 2021

Angela Merkel behandelte Ungarns Premier Viktor Orbán mit mütterlichem Wohlwollen. Darauf könnte der alternde Autokrat bei einer grünen Kanzlerin nicht mehr hoffen.

Ungarn Premierminister Viktor Orban
Ungarns Premierminister Viktor OrbánBild: picture-alliance/AP Photo/F. Seco

Es kommen schwere Zeiten

Angela Merkel, über lange Jahre hinweg der europäische Schutzengel des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán, wird bald aus dem Amt scheiden. Währenddessen bieten CDU und CSU das Bild von Gästen in einer Vorstadtspelunke kurz vor der Sperrstunde. Sie sind in eine Schlägerei verwickelt, was ihr Ansehen entsprechend abstürzen lässt. Nun sind die Grünen in Deutschland die beliebteste Partei, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass sie nach der Bundestagswahl im Herbst die Kanzlerin stellen.

Wäre ich Viktor Orbán, hätte ich schlaflose Nächte

Annalena Baerbock, die Kandidatin der Grünen für das Bundeskanzleramt, ist eine überqualifizierte Expertin für internationales Recht und vierzig Jahre jung. Als Trampolinspringerin gewann sie bei deutschen Meisterschaften dreimal die Bronzemedaille, und sie schreckt vor nichts und niemandem zurück. Auch Fußball spielte sie einige Jahre lang.

Grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock: Schlaflose Nächte für OrbánBild: Christian Thiel/imago Images

Angela Merkel hat den um neun Jahre jüngeren ungarischen Premier, solange seine Partei Fidesz noch Mitglied in der EVP war, stets mit mütterlichem Wohlwollen behandelt. Mit Baerbock wird das ganz anders. Ihrer Altersklasse ist nichts mehr heilig. Das hinterlistige Lächeln alternder, bierbäuchiger Diktatoren lässt ihre Herzen nicht höher schlagen, man kann sie nicht einfach mit einem Strauß Blumen bezaubern. Während sich Viktor Orbán mit seinen Kollegen aus Kasachstan, Aserbaidschan, Usbekistan oder China sofort auf einer gemeinsamen Wellenlänge befindet, ist dies mit der Y-Generation in Westeuropa kaum möglich.

Von der Regierung gemästete Multimilliardäre

Das Problem wurde Ende April deutlich, als zwölf Abgeordnete des EU-Parlaments die Präsidentin der EU-Kommission in einem Schreiben darüber informierten, dass zwanzig Prozent des Geldes aus dem Corona-Hilfspaket für Ungarn seitens der Orbán-Regierung beiseite geschafft werden sollen. Zwar ist dies für Ursula von der Leyen nichts Neues, trotzdem waren die Parlamentarier entschlossen, akkurat darzulegen, welche Methoden die Regierung in Budapest dabei anwendet.

Angela Merkel und Viktor Orbán im August 2019: Mütterliches Wohlwollen für den ungarischen PremierBild: picture-alliance/AP/MTI/Hungarian Prime Minister's Press Office/B. Szecsodi

Die von der Regierung zur Bereicherung auserkorenen und mit öffentlichen Geldern gemästeten Multimilliardäre, deren eigene Fähigkeiten normalerweise höchstens dafür ausreichen würden, einen Haushaltsgeräte-Service zu managen, sind nun mit der Aufgabe betraut, die grundlegende Infrastruktur des Landes aufzukaufen, natürlich mit Geld, das ihnen die Regierung heimlich und mit genau dieser Absicht in die Taschen stopft. Das Hochschulwesen wird in sogenannte "öffentliche Aufgaben verrichtende, vermögensverwaltende Stiftungen von öffentlichem Interesse" überführt; geleitet werden diese von den treuesten Janitscharen der jetzigen Regierungspartei Fidesz. Der größte Teil der Finanzierung im Bereich Kultur läuft ähnlich ab.Außerdem wurde gerade die "Aufsichtsbehörde für regulierte Aktivitäten" gegründet, die den Kasino- und Glücksspiel-Markt sowie das System der Gerichtsvollzieher und Konkursverwalter überwacht. Ihren Leiter ernennt Viktor Orbán für neun Jahre - ein Zeitraum, der weit über sein gegenwärtiges Mandat hinausreicht.

Der Journalist, Kritiker und Publizist István VáncsaBild: Privat

Geld von den Barbaren, sprich aus Brüssel

Über all das informierten die Europa-Abgeordneten in einem Brief, den das Magazin "Politico" veröffentlichte. Unter den zwölf Unterzeichnern sind acht Mitglieder der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im EU-Parlament. Baerbock ist ihre Bundeskanzlerin in spe.

Es scheint, als werde die Luft für Orbán in diesen Tagen immer dünner. Morgens fliegt er zu den Barbaren, sprich nach Brüssel, um ihnen seinen Anteil abzuknöpfen. Mittags fordert er aus dem Corona-Hilfspaket sechzehn Milliarden Euro für Ungarn, einige Stunden später ist dann aber nur noch von etwas mehr als einem Drittel dieser Summe die Rede. Jeder Cent des anfangs geforderten Betrages war schon eingeplant, schließlich finden bald Wahlen statt. Da muss Fidesz Geld in die Hand nehmen und dabei stets darauf achten, dass das einfache Volk lediglich den Anblick heranflatternder Banknoten genießen soll, während das große Geld an sich jenen Weg einschlägt, den der Willen des Himmels vorgegeben hat. Am gleichen Abend erzählt Orbán dann zu Hause, ihm genüge auch das Kleingeld, das er letztendlich ja auch nur bekam.

Viktor Orbán mit der EU-Kommissionspräidentin Ursula von der Leyen im Februar 2020Bild: picture-alliance/AA/D. Aydemir

Niedliche Schäfchenwolke Baerbock

Die Gründe für seinen Verzicht liegen auf der Hand. Die Kommission verknüpfte die Zuwendungen mit "lächerlichen" Bedingungen, wie zum Beispiel mit der Forderung, die ungarische Regierung solle die Mittel auch für den Kampf gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Es zeugt von einigem Gespür für Humor, der Orbán-Regierung so etwas zuzumuten. Die "Brüsseler Bürokraten" fordern sogar noch mehr, nämlich die Regelung der öffentlichen Auftragsvergabe und die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz. Allem Anschein nach ist das nicht ganz aussichtslos, denn in Brüssel munkelt man, Orbán sei der zermürbenden Debatten mit der Kommission und den übrigen Mitgliedsstaaten bereits müde. So nahm er denn, was er konnte, und trollte sich betrübt von dannen.

Baerbock ist jetzt noch eine winzige, niedliche Schäfchenwolke am westlichen Horizont. Aber was, wenn sie bald zwei Drittel des Himmels einnimmt, die Sonne verdunkelt und mit einer Sintflut droht? Das ist gerade die Kardinalfrage in einer Zeit, in der die magische Kraft unseres Regierungschefs zu schwächeln scheint.

Grundwerte der EU nach Gusto missachten

Die Zeiten ändern sich. Gestern jagte er Europa, vor allem den südlichen Ländern, mit seinem Veto gegen das gigantische EU-Rettungspaket einen Schrecken ein, sollten sie versuchen zu verhindern, dass er pro Tag wenigstens dreimal nach Gusto die Grundwerte der EU mit Füssen tritt. Sein Poltern musste doch ernst genommen werden, denn Kenner seines Charakters waren sich sicher, dass er die Drohung auch wahrmachen würde. Dann kam Merkel und beschwichtigte die Gemüter, wobei es dennoch angebracht wäre, wenn wir Ungarn uns als Wikinger, Kosaken oder Indianerhäuptlinge verkleiden würden, sollte uns der Weg demnächst in eines der mediterranen Länder führen. Wichtig ist, dass man nicht dahinterkommt, wer wir eigentlich sind.

Viktor Orbán, der polnische Premier Mateusz Morawiecki und der italienische Ex-Innenminister Matteo Salvini im April 2021 in BudapestBild: Attila Kisbenedek/AFP/Getty Images

Noch wichtiger ist, dass man unserem Befehlshaber weiterhin zugesteht, die Grundwerte der EU missachten zu dürfen. Aber natürlich nur, wenn es das Budget der EU nicht direkt berührt. So besagt es ja der neue EU-Rechtsstaatsmechanismus: Sanktionen bei Rechtsstaatsverletzungen - wenn Geld aus dem EU-Säckel involviert ist. Was das genau bedeutet, wissen wir nicht. Vielleicht weiß auch Merkel das nicht. Sie löschte jedenfalls im Dezember vergangenen Jahres den lodernden Adventskranz, damit nicht das ganze Haus abbrennt.

Das ungarische Modell ist ansteckend

"Fachleute warnen vor Übernahme der letzten unabhängigen Medienhäuser in Ungarn", titelte das Portal Euractiv kürzlich. Dass sich im Hunnenland der Teufel die freien Medien geschnappt hat, ist längst zur Genüge bekannt. Viel wesentlicher als das ist die Ansteckungsgefahr, die vom ungarischen Modell ausgeht. Die Krankheit verbreitet sich über die Grenzen in alle Richtungen. Wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen.

Wenn Annalena Baerbock tatsächlich Kanzlerin wird, dann könnte sie ein Gewinn für unseren Kontinent sein, aber wir sollten uns klar machen, dass Europa jetzt nicht einfach eine fähige deutsche Kanzlerin braucht. Sondern auch einen wirksamen politischen Impfstoff.

István Váncsa, Jahrgang 1949, ist ein ungarischer Journalist, Kritiker und Publizist, der für seine trocken-satirischen und ironischen Texte sowie als Autor unkonventioneller Kochbücher bekannt ist. Er ist stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung "Leben und Literatur". Dort erschien der hier auf Deutsch publizierte Text am 7.5.2021.

Übersetzung und Adaptierung aus dem Ungarischen: Gábor Szász, Keno Verseck