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Politik

Berlin als Europas Metapher

Carmen-Francesca Banciu
28. April 2017

Von Berlin erwartet man Großes: Verteidigung der Freiheit und der Kreativität, Akzeptanz für das Anderssein, Gelassenheit. Die Stadt sucht aber noch nach sich selbst - und das ist gut so, meint Carmen-Francesca Banciu.

Carmen-Francesca Banciu, Autorin
Bild: Marijuana Gheorghiu

Es war Liebe auf den zweiten Blick, denn ich hatte Angst vor Berlin. Ich kam für ein Jahr mit einem Stipendium. Danach wollte ich weiter nach Paris. Im März 1990 war Berlin immer noch geteilt und eine Insel in einem Meer von DDR. Die DDR war im Begriff, sich aufzulösen. Aber ihr Geist war allgegenwärtig und löste bei mir Schüttelfrost aus.

Am Anfang war ich wie gelähmt und konnte der Stadt nicht viel abgewinnen. Ihre noch offene Wunde am Checkpoint Charlie spürte ich, als wäre es ein Riss im eigenen Fleisch. Der russische und der ihm gegenüber stehende amerikanische Soldat, die den Übergang in den jeweiligen Sektor bewachten, waren noch keine Requisiten der Tourismusindustrie. Die Grenze war noch keine Kulisse eines Freilichtmuseums. An diesem Ort konnte ich deutlich den Geist der Mauer erkennen, erleben, begreifen. Und Dankbarkeit dafür empfinden, dass diese keine wirkliche Macht mehr über mich hatte.

Berauscht vom Sog der Geschichte

Berlin war noch nicht Berlin, als ich angekommen war. Am Checkpoint Charlie konnte man es am deutlichsten sehen: Zwei Welten, zwei politische Systeme, zwei Lebenseinstellungen, zwei Mentalitäten, Ost und West prallten aufeinander. Und sollten sich demnächst nicht nur vertragen, sondern das Beste daraus entstehen lassen. Zusammenwachsen. Eins werden. Es war ein Privileg, als Schriftstellerin, beobachten zu dürfen, wie eine neue Welt entsteht. Eine, die aus beiden politischen Systemen etwas noch nicht Dagewesenes gebärt. Es war ein Privileg, das zu beobachten und in Worte zu fassen, dafür Worte zu finden. Worte in der neuen Sprache.

Heute nur noch Requisiten der Tourismusindustrie: Checkpoint CharlieBild: picture-alliance/dpa/W. Kastl

Ich war nicht die Einzige, die dies erkannt hatte, die wie berauscht vom Sog dieser Veränderungen und von der Wiedergeburt Berlins, der neuen Weltstadt angezogen wurde. Ich war nicht die Einzige, die sich berufen fühlte, hier mitzuwirken, mitzugestalten. Die glaubte, eine wichtige Aufgabe vom Leben aufgetragen bekommen zu haben und ihren Platz im Leben oder mindestens für eine gewisse Zeit gefunden zu haben.

Sobald die Grenzen aufgingen, war Berlin eine offene Stadt geworden, die die Welt selbst anzog. Berlin bot günstige Mieten und geistigen Freiraum für Experimente. Sie bot Offenheit und Akzeptanz für Vielfalt und Andersartigkeit, für Unangepasstheit, für Individualität. Sie besaß ein gewisses Laissez-faire. Sie bot eine Art osmotisches Leben zwischen den Insulanern und den Ankömmlingen, denn auch Ost-Berlin war auf seine Weise eine Insel. Und selbst in Kreuzberg, wo man hauptsächlich Türkisch hörte, spürte man eine große innere Freiheit und Verbundenheit mit dieser werdenden Stadt.

Veränderung der Stadt

Kurz nach der Wiedervereinigung drohte Berlin unter der Last seiner Geschichte zu ersticken und brauchte frischen Wind, eine gewisse Unbeschwertheit und Hilfe bei der Heilung. Künstler, Erfinder, Mutige und Waghalsige, unternehmerische Geister jeder Art wirbelten die Energien der Stadt auf.

Besonders im Ostteil wurde alles umgekrempelt. Sogar neu erfunden. Unkonventionelle künstlerische Kommunikationsformen sind entstanden zwischen Stadt und Individuum, zwischen Künstler und Publikum. Ungewöhnliche Veranstaltungsformen und Orte für Kultur. Künstler, Musiker, Designer und Architekten krempelten die Stadt um. Machten sie lebendig, modern und hip. Oft mit und für wenig Geld, aber mit viel Einfallsreichtum.

Künstler machten Berlin lebendig, modern und hip Bild: DW/V. Esipov

Aber sobald ein Kiez belebt wurde, schossen die Mietpreise und die Erhaltungskosten in die Höhe und vertrieben die Gestalter. Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Teile Neuköllns, um nur einige zu nennen, sind selbst für den normal verdienenden Bürger nicht mehr zu bezahlen. Man möchte die Gestalter in die Peripherie oder außerhalb der Stadt treiben. Aber sie sind die Seele eines Ortes. Ohne sie wird eine Stadt oder ein Land verhungern, verdursten, austrocknen. Sich selbst auffressen.

Erziehung zur Mehrsprachigkeit

Berlin ist die Stadt der Startups. Zahlreiche internationale Unternehmen, aber auch internationale Verlage und Universitäten wurden hier gegründet oder sind hierher gezogen. Inzwischen ist Berlin eine weltbekannte und begehrte Metropole geworden, in der Englisch als Lingua franca, als Verständigungssprache gilt. Es gibt ein immer größeres Bedürfnis nach mehrsprachigen oder mindestens in der Lingua franca gehaltenen Veranstaltungen für ein kosmopolitisches Publikum. Damit tun sich noch die städtisch finanzierten Veranstalter und Kulturinstitutionen etwas schwer. Sie erkennen den Geist der Zeit nicht oder möchten ihm den Einzug verweigern.

Sobald ein Kiez belebt wurde, schossen die Mietpreise in die HöheBild: picture-alliance/JOKER/A. Stein

Neben Respekt und Erziehung zur Pflege der eigenen Sprache und Kultur ist in Zeiten der Globalisierung die Erziehung zur Mehrsprachigkeit von großer Bedeutung. Dies ist eine der wichtigen Aufgaben der Schulen und der Bildungs-und Kulturbeauftragten unserer Gesellschaft.

Eine Stadt mit Aufgaben

Der Durchbruch der englischen Sprache nicht nur in Technik und Musik ist nicht aufzuhalten. Wer dies nicht erkennt, nicht damit kreativ umzugehen lernt und dadurch ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Eigen und Fremd unterstützt, stürzt Berlin von seinem neuen Podest in die Provinzialität und Bedeutungslosigkeit.

Berlin ist eine Metapher für unsere Zeit. Durch das Zusammenwachsen von Ost und West mitten in Europa hat Berlin große Aufgaben vor sich. Und die Welt hat große Erwartungen von der Stadt: Verteidigung der Freiheit, der kreativen Energien, Akzeptanz für das Anderssein, Großzügigkeit, Gelassenheit, friedensstiftende, konfliktlösende, vermittelnde Fähigkeiten und eine klare Haltung gegenüber Diktaturen, seien sie politisch oder religiös geprägt.

Berlin ist noch immer nicht Berlin. Es wird jeden Tag ein Stück. Mit Jedem, der dazu kommt, der sich hier angenommen fühlt und mitverantwortlich anpackt. Berlin ist noch nicht Berlin. Berlin ist im Werden. Und das ist gut so.