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Gesellschaft

Mein Europa: Bukarest-Trilogie

Catalin Dorian Florescu
18. August 2018

Bukarest zu verstehen fällt selbst seinen Einwohnern nicht immer leicht. Die Stadt ist so idyllisch wie uniform, so elegant wie verfallen. Eine Annäherung in drei Schritten von Catalin Dorian Florescu.

Catalin Dorian Florescu
Bild: picture alliance/KEYSTONE/A. Yavas

In den letzten beiden Jahren habe ich jeweils zwei Monate in Bukarest verbracht, auf den Spuren eines neuen Romans. In den Jahrzehnten davor hatte ich keine wirkliche Verbindung zu dieser Stadt herstellen können, in der ich nicht aufgewachsen war und mit der ich keine Erinnerungen verband. Heute aber sieht es für mich ganz anders aus.

Bukarest macht es einem nicht leicht, sie zu mögen: Kaum zeigt sich ihre Eleganz und Raffiniertheit, schon nimmt man Verfall und Vernachlässigung wahr. Kaum wirkt sie mondän, schon taucht eine slumartige Gegend auf. Kaum herrschen Stille und sogar Idylle, schon melden sich Lärm, Gehetztheit und Uniformität. Nicht umsonst pflegte man noch in der Zwischenkriegszeit von Bukarest im Plural zu reden: Bucurestii.

Das ist heute erst recht angebracht, denn es gibt eine Vielzahl von Gesichtern dieser Stadt. Sie besteht aus mehreren ineinandergeschobenen oder parallel existierenden Welten. Ohne sie alle einzubeziehen, kann man ihr nicht gerecht werden.

So wie Bukarest könnte man auch Rumänien sehen: als vielfältig und widersprüchlich, eindeutig europäisch und doch mit einem Bein im Orient stehend.

Piata Natiunile UniteBild: picture alliance/Arco Images

Mit dem Kopf und dem Herzen voller Eindrücke kehrte ich vor kurzem aus Rumänien zurück. Um sie nicht in eine Formel zusammenzupressen, um dem offenen Charakter dieses Landes zu entsprechen, stellte ich eine Liste der Erinnerungen zusammen. Sie bildet als Gesamtheit ein subjektives Mosaik, eine Collage der Eindrücke, die sich weiter ergänzen liesse. Denn Rumänien, wie Bukarest, ist die reinste Aufforderung wahrzunehmen, zu empfinden, ohne voreilig zu werten. Und doch muss man irgendwann, wenn die Zustände zu eindeutig sind, leider auch das tun.

Meine Erinnerungen möchte ich Ihnen wohldosiert in drei Teilen präsentieren. Hier ist der erste Teil.

­- Im Vorfrühling, auf der Hinfahrt nach Bukarest, nahm ich in Sibiu (Hermannstadt) zusammen mit Freunden an einer Mahnwache teil, die seit Monaten täglich um zwölf Uhr vor dem Lokalsitz der regierenden PSD stattfindet. Für genau eine Viertelstunde stellen sich die Teilnehmer - zwischen ein paar Dutzend und mehreren Hundert - schweigend hin, der Verkehr fliesst langsam an ihnen vorbei, die Fussgänger müssen um sie herumgehen. Manche gesellen sich spontan dazu. Es ist eine machtvolle Stille, die man wahrnimmt, ob man will oder nicht. Die Bewegung heisst: "Wir sehen euch!". Gemeint sind die korrupten Politiker und Unternehmer, mit denen das Land reichlich gesegnet ist. Das Schweigen des Volkes hat für einmal seinen Sinn.

- In Brasov (Kronstadt) traf ich einen Tag später Sonja, die Schweizer Leiterin eines Kinderheims, das sie vor über 25 Jahren gegründet hat. Sie kommt aus diesem Land nicht mehr weg, zu sehr ist ihr Leben mit jenem der Kinder verschränkt. Sie war einst bei Kälte und Nebel an einem Novemberabend in eine Stadt und ein Land eingetroffen, die ihr auch gleichgültig hätten bleiben können. Sie hat etwas geschaffen, wozu nur wenige fähig sind: sich schützend und beharrlich vor das verletzbare Leben zu stellen. Für Dutzende von Kindern und Jugendlichen ist sie eine Mutter. Sie erzählte mir, dass eine ihrer Mitarbeiterinnen im Krankenhaus sei. Die Team-Kollegen wechseln sich an ihrem Bett ab, bringen Essen und Toilettenpapier mit und wenden sie wenn nötig. So ist das in den staatlichen rumänischen Krankenhäusern. Sonja wurde von der einzigen Krankenschwester auf der Abteilung gebeten, die Infusion zu überwachen. Ärzte und Pflegepersonal, Fachleute aller Art wandern aus. Es ist ein Aderlass, für den bestimmt nicht Dracula verantwortlich ist.

Parlamentsgebäude in BukarestBild: picture-alliance/dpa/R. Ghement

- Als ob sich ein Gletscher zurückgebildet hätte, gab der Winter den Abfallteppich auf dem Weg von Brasov nach Bukarest frei. In den schönen Karpatentälern hinterlässt der Mensch eine Spur der Gleichgültigkeit. Während ich auf die Hauptstadt zufuhr, fuhr eine endlose Blechkolonne in Schritttempo in entgegengesetzter Richtung. Es waren Bukarester, die aus ihrer Stadt fliehen, wann immer sie können. Mehrmals im Jahr leert sich Bukarest und füllt sich einige Tage später wieder, wie ein Herz, das Blut aufnimmt und wieder herauspumpt. An diesen Tagen herrscht Frieden in Bukarest, und man kann sich mit dieser Stadt versöhnen.

- In Bukarest sind die Blumenkioske bis nach Mitternacht geöffnet. Praktisch an jeder Ecke steht einer. Ich habe noch nie jemanden etwas kaufen sehen. Aber vielleicht wartet man hier mit den Liebeserklärungen bis es dunkel ist. Vielleicht fahren die Bukarester ihre Toten nachts zum Friedhof. Vielleicht versuchen die Menschen, ihre Stadt und ihre Wohnungen erst im Schutze der Dunkelheit zu verschönern. Vielleicht versammeln sich die Stadtbewohner täglich um Mitternacht um die Blumenkioske, um den Duft zu atmen. Vielleicht aber ist es nur Verzweiflung, um überhaupt was zu verkaufen.

- Nacht für Nacht ziehen die Zisternenwagen durch die leeren Strassen von Bukarest und reinigen sie vom Schmutz des Tages. Putztrupps mit leuchtenden Westen tauchen im Scheinwerferlicht wie aus dem Nichts auf und verschwinden wieder dorthin. Sie ziehen Mülleimer auf Rädern hinter sich her und schultern Besen wie zu Grossmutterszeiten. Es ist, als ob diese Stadt unter Waschzwang litte, um sich vor dem Verfall zu retten; am frühen Morgen ist der Spuk wieder vorbei. Zurück bleiben Kloaken voller Schaum. Hier scheint jemand sagen zu wollen: "Seht her! Ihr seid mir wichtig! Eure Stadt ist mir wichtig! Ich kümmere mich um sie." Während manch ein Politiker am Tag sich die Hände in Unschuld wäscht und ganze Häuserzeilen sehenden Auges zerfallen, setzt Sisyphus in der Nacht seine endlose Arbeit fort.

Die Altstadt Bukarests im Zentrum: Cafes, Restaurants, kleine LädenBild: picture-alliance/ dpa/J. Kalaene

- Auf der Terrasse eines Gasthofes waren alle Tische besetzt. Man ass mit Appetit die schmackhafte, schwere Küche des Landes. Aussenrum zog ein Zigeunermädchen von kaum neun oder zehn Jahren ihre Runden und sang vor sich hin. Sie hielt einen Veilchenstrauss in der Hand, den sie verkaufen wollte, aber niemand beachtete sie. Ich bot ihr meine Bohnensuppe in Brotkruste an - ja, hier gibt es so etwas -, als sie damit fertig war und etwas mutiger geworden war, sah sie es auf die Süssspeise am Nachbartisch ab. Dort sass schweigend eine Familie, sie war nach einem üppigen Mahl noch mit den Papanasi - riesige rumänische Doughnuts - beschäftigt. Das Mädchen fragte, ob sie auch was davon haben könnte. Die Familie schwieg und kaute. Erst nach einer Weile kam die Antwort: "Falls wir für uns genug haben, kriegst auch du was."

– Ich habe die Gedichte von Nichita Stanescu gelesen:

"Sie sind mein, erzählte ich ihnen / Um sie zu beruhigen / Über die Flügel der Schmetterlinge / Die dämlich im Zickzack flogen / Sie sind mein. Wartet, schlaft nicht / Alles, was ihr nicht versteht / Ist mit mir verwandt ..."

Oder: "Der Prinz, als er vom Pferde fällt / Erdrückt im Fallen einen Engel / Für diese umfassende Empfindung / Blute ich heute ..."

Fortsetzung folgt.

Der deutschsprachige Schriftsteller Catalin Dorian Florescu (51), gebürtiger Rumäne, lebt seit 1982 in der Schweiz. Für den Roman "Jakob beschließt zu lieben" wurde er 2011 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Im September 2017 erschien im Verlag C.H. Beck sein neuer Erzählband "Der Nabel der Welt". 

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