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Politik

Mein Europa: Das neue Rumänien

Carmen-Francesca Banciu
3. Februar 2017

Die rumänische Zivilgesellschaft ist endlich erwacht, sie wird kritischer - und selbstkritischer. Die Massenproteste in Rumänien machen der rumänisch-deutschen Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu Hoffnung.

Carmen-Francesca Banciu, Autorin
Bild: Marijuana Gheorghiu

Seit mehr als 25 Jahren ist Rumänien auf dem Weg der Erneuerung. Ein Land, das - wie auch einige andere Länder des früheren Ostblocks - mit den Überbleibseln der kommunistischen Diktatur zu kämpfen hat. Es geht auf und ab. Einen Schritt nach vorne, zwei nach hinten. Dann wieder zwei nach vorne und einen nach hinten. Und so weiter. Immer wieder gibt es Krisen und den Eindruck, das Land würde jedes Mal in Chaos und Katastrophe versinken. Irgendwie kommt das Land dann doch voran. Aber wie wird es diesmal sein?

Seit ein paar Tagen und Nächten wird nicht nur in Bukarest, sondern landesweit massiv demonstriert. Die Menschen gehen auf die Straße und sind unzufrieden mit der erst vor etwas mehr als einem Monat gewählten Regierung. Selbst manche Wähler aus den eigenen Reihen glauben, der rumänische Rechtsstaat sei durch die Entscheidungen der neuen Machthaber in Gefahr.

Diesmal geht es bei den Protesten nicht um Lohnerhöhungen, Steuern oder irgendwelche Vergünstigungen materieller Art. Es geht nicht um die Ablehnung von Gesetzentwürfen, die dem Parlament vorgelegt werden sollen, sondern um die Reaktion auf zwei in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verabschiedeten Eilverordnungen der Regierung Grindeanu. Sie sehen Änderungen im Strafrecht und auch strafrechtliche Amnestien im Bereich Korruption vor. Die Veränderung soll implizit dazu dienen, bereits verurteilte Politiker freizusprechen und zukünftigen Missbrauch durch Amtsinhaber im Voraus zu entlasten.

Unter den Demonstranten war auch Präsident Klaus Iohannis, der inzwischen Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung der Regierung eingelegt hat.

Am 22. Januar ist Präsident Iohannis (Mitte) zusammen mit den Demonstranten auf die Straße gegangen Bild: Reuters/O. Ganea

Präsident Iohannis ermutigt das Volk 

Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Staatsoberhaupt des Landes gegen die eigene Regierung auflehnt. 1944 hatte König Michael I. von Rumänien durch einen Königlichen Staatsstreich die Militärdiktatur des Marschall Antonescu und somit das Militärbündnis mit dem Deutschen Reich beendet.

Diesmal mischt sich der Präsident der Republik unter das Volk und ermutigt es, seine demokratischen Rechte wahrzunehmen. 

Vor etwas mehr als einem Jahr haben Straßenproteste in Rumänien die Regierung zum Sturz gebracht. Das Seltsame ist nur, dass die selbe Partei im Dezember 2016 demokratisch wiedergewählt wurde. Die Wahlbeteiligung war nicht besonders groß: Und von etwa 40 Prozent aller Wahlberechtigten, die zu den Urnen gingen, haben 45 Prozent die Sozialdemokraten wiedergewählt. Die hatten sich Wohlstand für alle auf die Fahne geschrieben und verlockende Versprechen gemacht, die sie größtenteils sogar einzuhalten beabsichtigten. Der Preis dafür: Die Wähler sollten ein Auge zudrücken bei der Lockerung der Anti-Korruptionsgesetze. Wohlstand gegen Verzicht auf Kompromisslosigkeit und auf den Anspruch demokratischer Mitbestimmung.

Dieser Plan scheint nicht wirklich aufgegangen zu sein. Auch wenn das politische Spektrum nicht viel Auswahl zu bieten hatte und sich viele junge Wähler aus Verzweiflung ihre Stimme enthalten haben bei den jüngsten Wahlen, verstanden sie es diesmal noch rechtzeitig, dass die Lösung nicht darin liegt, die Zukunft des Landes und die eigene Zukunft in den Hände der alten Garde zu lassen.

Viele Wähler fühlen sich verraten 

Spätestens nachdem die neue Regierung die Eilverordnungen angekündigt hatte, verstanden immer mehr Wähler, dass ihnen eine Falle gestellt worden war. Ein Dekret mit solcher Eile zu erlassen, wichtige Entscheidungen mit solcher Hektik umsetzen zu wollen, hat bei vielen Bürgern Misstrauen geweckt. Die Geheimnistuerei hat Wut und Widerstand ausgelöst. Ein großer Teil der rumänischen Wähler hat den Eindruck bekommen, dass ihre Interessen verraten wurden, missbraucht von der führenden politischen Partei. 

Plötzlich sind junge oder weniger junge Menschen, die bis dahin nie bei einer Demonstration gewesen sind, die sich nie zuvor für Politik interessiert haben, sowie auch andere, die aus schierer Politikverdrossenheit den Parteien längst den Rücken gekehrt hatten, aktiv geworden. Sie haben begriffen, dass es der Demokratie an den Kragen geht, die eigene Zukunft in Gefahr und ihre Beteiligung unentbehrlich ist. Mit kreativen Protestinitiativen, Slogans und guter Organisation verharren sie auf Demonstrationen, trotzen der Kälte. Ihr politisches und gesellschaftliches Bewusstsein ist erwacht. Ihr bürgerliches Engagement ist auferstanden. Sie gehören unterschiedlichen Generationen, Gesellschaftsschichten und Parteien an, es sind Menschen mit politischer Erfahrung oder auch ohne eine solche. Was beeindruckt: Sie sind immer informierter, immer besser ausgebildet und politisch gebildet - und immer weniger bereit, als Manipulationsmasse zu dienen.

Den Demonstranten geht es nicht um höhere Löhne - sondern um demokratische Werte Bild: Getty Images/AFP/D. Mihailescu

Die Zahl der Protestierenden wächst von Tag zu Tag. Die Position der Regierung dagegen wird immer wackeliger. Noch beharrt sie auf ihre Entscheidung und behauptet sogar, die Demonstrationen würden aus dem Ausland gesteuert. Trotzdem gibt es auch die ersten Rücktritte, begründet mit ethischem Skrupel: zum Beispiel Handelsminister Florin Jianu.

Junge Zivilgesellschaft wird erwachsen 

Die jüngsten politischen Ereignisse haben das Land erneut aus der politischen Lethargie geweckt. Die Straße hat ihre Funktion als Korrektiv für die Fehler der Regierenden wieder angenommen. Wenn man sich aber die Geschichte Europas anschaut, weiß man, dass die Macht der Straße auch Unheil bringen kann. Deswegen wünscht man sich eine verantwortliche und funktionierende Regierung, die den Dialog zulässt, Meinungsunterschiede als Bereicherung und Herausforderung akzeptiert. Und mit der Opposition im Gespräch bleibt.

Rumänien ist auf dem Weg der Erneuerung und Veränderung. Seine Zivilgesellschaft wird immer kritischer, selbstkritischer und verantwortungsbewusster. Ihre Bedeutung immer größer. Sie erkennt immer deutlicher ihre Macht und besonders ihre damit verbundene Verantwortung und beginnt sie ernsthaft in Taten umzusetzen. Vertrauen in die eigene Entscheidungsfähigkeit zu gewinnen. Es ist eine junge Zivilgesellschaft, die dabei ist, erwachsen zu werden und bereit ist, den großen Herausforderungen unserer Zeit die Stirn zu bieten. Das macht selbst angesichts der momentan unglücklichen politischen Umstände zugleich Hoffnung. Denn dies ist ein unumkehrbarer Prozess.

Carmen-Francesca Banciu ist eine rumänisch-deutsche Schriftstellerin und Dozentin. Seit November 1990 lebt sie als freie Autorin in Berlin und leitet Seminare für Kreatives Schreiben. Seit 1996 schreibt sie auch in deutscher Sprache. Zuletzt erschienen von ihr die Bücher "Leichter Wind im Paradies" und "Berlin Is My Paris - Stories From the Capital".