1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Der bevormundete Bürger

Stanislaw Strasburger
17. April 2020

Wie viel Bevormundung braucht ein Bürger? Spektakuläre, massive und flächendeckende Verbote erscheinen oft wie eine Verschleierungsstrategie, meint der Schriftsteller Stanisław Strasburger.

Stanislaw Strasburger
Bild: Mathias Bothor

Besteht die Rolle des Staates darin, für mich, meine Familie oder für ganze gesellschaftliche Gruppen, die bemerkenswerterweise Risikogruppen genannt werden (wer riskiert hier und was?), zu bestimmen, welchen Gefahren sie sich aussetzen sollen? Ist die vermeintliche Solidarität mit diesen Gruppen nicht gleich ein tiefer Mangel von Solidarität mit den vielen anderen, denen durch den sogenannten Lockdown die Existenz wahrlich über dem Kopf zusammenbricht?

Die Mittel, nach denen die Politik derzeit greift, gehen über den gesundheitlich-epidemiologischen Aspekt längst hinaus. Der Staat schickt Polizei auf die Straßen (in manchen Ländern auch Militär), um seine Bürger einzusperren und zu überwachen. Es gehe um den Schutz meiner selbst und meiner Nächsten: Entweder tote Menschen oder egoistische Freiheiten. Doch klingt das nicht ein wenig suspekt? Verhält sich der Staat nicht plötzlich wie gewalttätige Eltern, die ihre Kinder durch Überwachen und Strafen vor sich selbst schützen wollen?

Wofür wird gesorgt?

Anstatt umsorgt fühle ich mich verstört. Denn wenn der Staat sich tatsächlich so sehr um meine Gesundheit kümmert, warum bleibt er dann so überraschend lahm gegenüber längst bekannten, massiven Gesundheitsrisiken? Er verdient fleißig Geld mit Tabak und Alkohol. Er verhält sich auch erstaunlich zurückhaltend gegenüber einer Ernährungsindustrie, in der Giftstoffe wie Zucker und schädliche Fette einen prominenten Platz innehaben. Nach allem, was wir heute wissen, bringen die genannten Güter viel mehr Tote und Leidende als Corona.

Nicht nur das. So unterschiedlich regierte Länder wie Polen, Spanien, Italien und Deutschland verordnen angesichts der Corona-Krise ähnlich massive Einschnitte in unser psychisches, soziales und wirtschaftliches Leben. Gleichzeitig versagen sie aber spektakulär in basalen logistischen und verwaltungstechnischen Unternehmungen. Warum können Kranke aus einer Region nicht systematisch in die andere transportiert werden, um sie vor dem Sterben in überfüllten Krankenhäusern an den einzelnen Spots zu schützen? Es gibt zwar Bergamo und Madrid, aber es gibt auch weite Landesteile, wo wenige Kranke zu beklagen sind. Und betrachtet man die gesamte EU, stehen jederzeit genug Betten in Intensivstationen zur Verfügung. Wo bleibt hier die von unseren Regierungen viel beschworene Solidarität?

Spektakuläre, massive und flächendeckende Verbote erscheinen mir vielmehr wie eine Verschleierungsstrategie, die das katastrophale Management unsichtbar machen soll. Nicht das Virus, sondern die Dysfunktion des Systems lässt die Menschen unnötig sterben. Mir scheint es, wir haben es mit einem Versagen zu tun, für das wir mittels emotionaler Erpressung gezwungen werden, mit Überwachung und Isolierung zu bezahlen. Es ist wie eine neue Art von Populismus - ein Gesundheitspopulismus.

Besucher des Tempelhofer Felds in Berlin versuchen einen Sicherheitsabstand zueinander zu haltenBild: picture-alliance/J. Eckel

Die Matrix der Zahlen und Bilder

In der Flut von Bildern und Zahlen, die mich davon überzeugen wollen, sie informierten mich genaustens über die vermeintliche Katastrophe, spüre ich ein überwältigendes Gefühl, ich werde manipuliert. Denn beim genaueren Hinschauen entpuppen sich die mathematischen Modelle zur Ausbreitung der Epidemie, die Sterbe- und Krankenzahlen als weitgehend willkürliche Konstrukte. Fragen, was genau gezählt, wie gemessen und worüber eigentlich berichtet wird, gehen weitgehend unter. Die Informationsflut erscheint wie eine Matrix: überwältigend, hypnotisierend und rechthaberisch, aber ihr Bezug zur Welt ist, gelinde gesagt, diffus.

Dabei versetzt diese Matrix viele Europäer in eine extreme Verunsicherung. Schnell schienen viele zu glauben, es sei legitim im Namen der vermeintlichen Solidarität und des Allgemeinwohls, Freiheit und ethische Werte zu opfern. Ich befürchte, viele dieser Freiheiten kommen nicht mehr zurück. Genauso wenig, wie ein Teil von ihnen nach den sogenannten islamistischen Anschlägen bereits abgegeben wurde und eben nicht zurückkam.

Denn mit dem Gesundheitspopulismus und der Matrix macht sich wie damals ein autoritäres Gedankengut breit. Einerseits gab es sofort zahlreiche besorgte Bürger, die nach der Polizei riefen, um Parkbesucher und Teilnehmer an den berüchtigten "Corona-Partys" in die Schranken zu weisen. Steht es um unsere Demokratie und unseren Glauben an die Bürgersolidarität so miserabel, dass wir nicht ein Minimum an Vertrauen in unsere Mitmenschen an den Tag legen wollen, sondern sofort nach dem staatlichen Gewaltapparat rufen?

Beinah genauso schnell gab es andere, die lautstark bekundeten, sie hätten "zu viel von der Welt". Nun herrsche endlich Ruhe, es gebe weniger Menschen auf den Straßen, man müsse in kein Flugzeug steigen, könne aufatmen. Auch eine solche Haltung vereint naive Romantik mit viel autoritärer Impertinenz. Denn brauchen wir dafür einen globalen Lockdown? Und kann man voraussetzen, dass sich jeder in seinem Zuhause gut versorgt fühlt und frei von Angst vor der Zukunft lebt? Wie vielen, wie wenigen geht es in unserer Welt jetzt so?

Besuchssperre und Infektionskontrollen gelten auch in SeniorenheimenBild: picture-alliance/dpa/J. Güttler

Die Geschichte, die sich wiederholt

Der Gesundheitspopulismus, die Macht der Matrix und die Erwartung besorgter Bürger, der Staat solle Sicherheit schaffen, koste es, was es wolle, erinnert eben an den anderen Populismus: den Kampf mit dem Terror. Es gibt verblüffende Parallelen. Ähnlich wie in dem Beispiel mit Tabak und Alkohol haben auch damals Staaten, die angeblich im Kampf mit dem Terrorismus so engagiert waren, ihre Waffenverkäufe nicht nur nicht reduziert, sondern zum Teil noch ausgebaut.

Es gab auch eine Flut von Bildern und "Fakten", die Gefahren "belegten". Man entfachte Kriege, steckte ganze gesellschaftliche Gruppen unter Generalverdacht und zahlreiche ihrer Lebensweisen wurden, wenn nicht gleich reglementiert, so doch stark stigmatisiert. Und der Rest der Bürger in einem Zug einer strengeren Überwachung unterzogen.

Die Anschläge sind mittlerweile passé. Die Zahl ihrer Opfer ist im Vergleich zu den Opferzahlen der "Mittel", die im Kampf angewendet wurden, unverhältnismäßig niedrig geblieben. Dabei sind diese "Mittel" - im Namen des Allgemeinwohls und der Sicherheit angewandt - nach wie vor im Gebrauch: Kriege gegen den Terror gehen weiter, die Überwachung, die Restriktionen und die Stigmata, wie auch der gesellschaftliche Sprengstoff sind geblieben. Wird es mit dem Virus auch so sein?

Stanisław Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Sein aktueller Roman "Der Geschichtenhändler" erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins "Humanismo Solidario".

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen