1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Mein Europa: Bosnien und Schmidts Wut

Jasmin Mujanovic
19. August 2022

Der Hohe Repräsentant in Bosnien, Christian Schmidt, scheint für seinen Posten ungeeignet. Nicht wegen seines Wutausbruchs, sondern weil er demokratische Reformen nicht umsetzen kann oder will, meint Jasmin Mujanovic.

Bosnien Herzegowina Christian Schmidt
Der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Christian SchmidtBild: Elvis Barukcic/AFP/Getty Images

Am Mittwoch dieser Woche (17.08.2022) ging ein Videoclip mit dem Hohen Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina, Christian Schmidt, viral. Es zeigt einen Wutausbruch des ehemaligen deutschen Landwirtschaftsministers. Er erfolgte, nachdem eine Reporterin bei einer Pressekonferenz in der südostbosnischen Stadt Gorazde eine Frage gestellt hatte. Der Clip verbreitete sich in den sozialen Medien sofort nach seiner Veröffentlichung rasant. Doch was genau veranlasste Schmidt zu diesem Wutausbruch? Um das zu beantworten, muss man etwas ausholen - denn es geht um das Nachkriegsbosnien, eines der verworrensten politischen Regime der Welt.

Das Amt des Hohen Repräsentanten (OHR) ist ein Produkt des von den USA vermittelten Friedensabkommens von Dayton, das den Bosnienkrieg 1995 beendete. Ausgestattet ist es mit außerordentlichen Exekutivvollmachten, den so genannten Bonner Befugnissen. Diese erlauben es dem OHR, einseitig bosnische Gesetze umzuschreiben, Beamte zu entlassen und sogar die Staatssymbole des Landes zu ändern.

Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton am 14.12.1995 im Elysee-Palast in ParisBild: Gerard Julien/dpa/picture alliance

Am Ende des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre begannen sowohl die bosnische Führung als auch die internationale Gemeinschaft auf die Schließung des Amtes hinzuarbeiten. Der übergeordnete Gedanke war, dass Bosnien seine volle Souveränität einfordern würde und die internationale Gemeinschaft bereit wäre, ihre Aufsichtsfunktion über die Nachkriegsordnung des Landes aufzugeben.

Ethnischer Schlüssel auf fast jeder Ebene

Dazu kam es nicht. Als sich sowohl die USA als auch die EU von Bosnien abwandten, trat stattdessen die Unzulänglichkeit des verfassungsrechtlichen Rahmens von Dayton in den Vordergrund. Bosniens Verfassung - der Anhang IV des Dayton-Abkommens - sieht für das Land mit seinen 3,2 Millionen Menschen vierzehn verschiedene Regierungsebenen vor. Das Land ist verwaltungstechnisch fast ausschließlich nach ethnischen Gesichtspunkten aufgeteilt, fast jeder einzelne öffentliche und administrative Posten in dem ausgedehnten Regierungsapparat nach einem ethnischen Schlüssel besetzt. Praktisch alle Rechte auf demokratische Vertretung sind den so genannten "konstituierenden Völkern", also Bosniaken, Serben, Kroaten, vorbehalten. Minderheiten wie die Roma und die historische jüdische Gemeinschaft Bosniens sowie diejenigen, die sich einfach als Bosnier identifizieren, sind von vielen gewählten Ämtern, einschließlich des dreiköpfigen Staatspräsidiums, ausgeschlossen.

Unser Autor, der bosnische Politikwissenschaftler Jasmin MujanovicBild: privat

Mit diesem Instrumentarium in der Hand stürzten die etablierten nationalistischen Parteicliquen Bosnien schnell in einen permanenten Krisenkreislauf. Die führenden serbisch-nationalistischen und kroatisch-nationalistischen Blöcke des Landes haben ihre Bemühungen in den vergangenen Jahren zunehmend koordiniert. Mit maßgeblicher Unterstützung Serbiens, Russlands und Kroatiens ist es ihnen gelungen, alles, was auch nur annähernd an eine Staats- und Regierungsführung in Bosnien erinnert, fast vollständig zu unterbinden.

Nicht umgesetzte Gerichtsurteile

Bosnische Bürgerrechtsaktivisten fanden darauf eine eigene Antwort. Ab 2009 reichten verschiedene Personen aus den Minderheitengemeinschaften des Landes und der Zivilgesellschaft Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und beim bosnischen Verfassungsgericht ein, um diskriminierende Aspekte der Verfassung des Landes anzufechten, darunter auch diejenigen, die sich auf das Wahlrecht und die Einschränkungen für die Minderheiten beziehen. Es folgten acht Urteile. In allen Fällen stellten sich die jeweiligen Gerichte auf die Seite der Beschwerdeführer.

Dragan Covic, Chef der bosnisch-kroatischen Partei HDZ (l.), und Milorad Dodik, bosnisch-serbisches Mitglied des Staatspräsidiums von Bosnien und HerzegowinaBild: Klix

Es überrascht nicht, dass die etablierte politische Klasse - allen voran die serbischen und kroatischen Nationalisten-Parteien - sich kategorisch weigerte, diese Beschlüsse umzusetzen, da sie erkannte, dass dies zu einem weitaus offeneren, repräsentativeren und wettbewerbsfähigeren politischen System in Bosnien - und damit wahrscheinlich zu ihrer Ablösung von der Macht - führen würde.

Legitimitätsproblem

Nach mehr als einem Jahrzehnt des Stillstands und wachsender politischer Spannungen hat Christian Schmidt, der sein Amt im August 2021 antrat, die Reform der Wahlgesetzgebung und der Verfassung zu einer Priorität seiner Amtszeit gemacht. Doch der Hohe Repräsentant hatte von Anfang an ein Legitimitätsproblem: Erstens waren die Umstände seiner Ernennung merkwürdig. Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel scheint die Entscheidung, Schmidt zu ernennen, ohne jegliche Abstimmung mit den anderen Mitgliedern der NATO-Quint-Gruppe (USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien) getroffen zu haben. Zugleich gab es Gerüchte, denen zufolge Berlin Schmidts Ernennung mit Moskau geteilt oder abgesprochen hatte.

Letztlich wurde Schmidt aber der erste Hohe Repräsentant, der vom Kreml erfolgreich daran gehindert wurde, dem UN-Sicherheitsrat einen regelmäßigen Bericht über den Stand der Umsetzung des Friedens in Bosnien vorzulegen. Darüber hinaus gibt es ein weiteres Problem bei Schmidts Vorgehen: Er entschied sich bei der Umsetzung seiner Wahlreformagenda dafür, die Urteile des EGMR zu ignorieren.

"Vertrauen verspielt"

Am 19. Juli 2022 berichteten bosnische Medien, dass Schmidt sich darauf vorbereite, seine Bonner Befugnisse zu nutzen, um die Wahlgesetze zu ändern. Er wollte dies nicht nur mitten im Wahlkampf tun - wenige Wochen vor dem Wahltag am 2. Oktober. Die meisten Experten befürchteten auch, dass die Gesetzesänderung ausschließlich der bosnisch-kroatischen HDZ und ihren sezessionistischen Koalitionspartnern in der bosnisch-serbischen SNSD zugute kommen würden. Denn es war bekannt geworden, dass Schmidts Gesetzesreform auf einem Text basierte, der in der kroatischen Hauptstadt Zagreb verfasst worden war.

Protest gegen Christian Schmidt vor dem Gebäude des Hohen Repräsentanten in Sarajevo im Juli 2022Bild: Klix.ba

Am 27. Juli lenkte Schmidt ein und entschied sich lediglich für eine Reihe technischer Änderungen am Wahlgesetz. Doch die Integrität des OHR als unparteiischer Schiedsrichter war bereits beschädigt. Wie beispielsweise der deutsche Abgeordnete Michael Brand, ein Mitglied von Schmidts ehemaliger CDU/CSU-Fraktion, feststellte, habe der Hohe Repräsentant in Bosnien "kurz vor den Wahlen schweren Schaden angerichtet und massiv Vertrauen verspielt".

Bosnier haben demokratische Chance verdient

An diesem Mittwoch nun stellte die Reporterin Adisa Imamovic vom bosnischen Sender N1 Schmidt in Gorazde eine sehr spezielle Frage: Warum er, Schmidt, sich nur mit einem der ausstehenden Verfassungsfälle des Landes zu befassen scheine - demjenigen, dessen Urteil, wenn es isoliert umgesetzt würde, der HDZ am meisten zugute käme - und nicht mit den anderen sieben ausstehenden Entscheidungen? Die Frage war scharf, aber legitim. Während seines darauf folgenden Wutausbruchs weigerte sich Schmidt, auf den Inhalt von Imamovics Kritik einzugehen - entweder weil er sie nicht verstand, oder weil er sie ignorieren wollte.

In Anbetracht der außergewöhnlichen Befugnisse seines Amtes und der Ereignisse der vorangegangenen Wochen deutet beides auf einen Mann hin, der für sein Amt nicht geeignet ist. Dies wurde in dieser Woche umso deutlicher, als sich herausstellte, dass Schmidt am Tag seines Wutausbruchs einem berüchtigten chauvinistischen Reporter einer kroatischen Zeitung ein freundliches Interview gegeben hatte, in dem er HDZ-Parolen nachplapperte.

Doch so wenig wie Schmidt geeignet scheint für sein Amt, so unzulänglich ist in Wahrheit auch die bestehende Verfassung Bosniens. Ein Vierteljahrhundert nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens haben die Bosnier eine Chance auf eine umfassende, partizipative Verfassungsreform zur Schaffung einer echten europäischen liberalen Demokratie verdient. Schmidt sollte zurücktreten und seinem Nachfolger die Möglichkeit geben, einen solchen Prozess zu erleichtern, anstatt ihn zu blockieren.

Jasmin Mujanovic ist Politikwissenschaftler und Autor des Buches "Hunger and Fury: The Crisis of Democracy in the Balkans" (Hunger und Wut: Die Krise der Demokratie auf dem Balkan).

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema