Der lange Schatten des Krieges
24. Februar 2023Ich hätte nie gedacht, dass ich im Alter von 58 Jahren, wenn der Großteil meines Lebens hinter mir liegt und ich noch so viele unvollendete Projekte habe, dem reinen Horror gegenüberstehen würde: dem Krieg.
Es war der 24. Februar 2022. Um 5 Uhr morgens hatte Russlands Aggression gegen die Ukraine begonnen, und ich verstand, dass alles, absolut alles, für mich, meine Familie und mein Volk enden könnte. Dass alles, was wir geträumt, geschaffen und erhofft haben, sich in Staub verwandeln kann. Denn eines war mir, war uns sofort klar: Wenn die Ukraine fällt, wird die Republik Moldau an der Reihe sein, denn sie hat keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Als ein "neutraler Staat" mit russischen Truppen in der separatistischen Region Transnistrien wäre sie Russland ausgeliefert, niemand würde ihr zur Seite stehen. Die russische Armee hätte ein leichtes Spiel, die Moldau zu überrollen und in wenigen Stunden den Pruth zu erreichen, die Grenze zur NATO und zur Europäischen Union.
Wird sich der Albtraum wiederholen? Historische Analogien
Wir, die Moldauer diesseits des Flusses Pruth, haben diese Katastrophe schon einmal erlebt. Am 28. Juni 1940 wurden Bessarabien und die nördliche Bukowina, die zu Rumänien gehörten, von den Sowjets besetzt. Auch die baltischen Staaten ereilte damals das gleiche Schicksal, nachdem Polen ein halbes Jahr zuvor aufgrund des Ribbentrop-Molotow-Pakts unter Hitler und Stalin aufgeteilt worden war. Es folgten Massenmorde, Deportationen von rund 300.000 Menschen nach Sibirien (in mehreren aufeinanderfolgenden Wellen), die organisierte Hungersnot von 1946-47 (ähnlich dem "modus operandi" des ukrainischen Holodomor), die Zerstörung der nationalen Kultur, eine erbitterte Politik der Russifizierung.
Im gegenwärtigen Krieg haben wir die Massaker in Butscha, Irpin, Charkiw, Isjum, Mariupol und in jüngerer Zeit in Soledar und Bachmut gesehen. Wir haben gesehen, was russische Truppen anzurichten im Stande sind. Sie werden keine Gnade haben, wenn sie in der Moldau einfallen, sie haben eine lange, tausendjährige Tradition der Grausamkeit und Tyrannei.
Es ist erstaunlich, im 21. Jahrhundert in Europa eine Barbarei wie im tiefsten Mittelalter wiederzubeleben. Die Ausbreitung der Demokratie, die technologische Entwicklung, die Lehren der Geschichte waren offensichtlich nutzlos. In Russland kochen militaristische Psychosen über, antiwestliche Diskurse, der Hass auf das Andere, Ekel und Abneigung gegen die Freiheit der Völker. Die immense Frustration eines untergegangenen Imperiums hat, völlig benommen von einem messianischen Hype, die Ressentiments eines Regimes, das den globalen Wettbewerb verloren hat, in eine Politik der Jagd auf seine Nachbarn umgewandelt. Moskau droht mit einem nuklearen Armageddon, "weil eine Welt ohne Russland keinen Sinn hat, zu existieren!" - so tönt es aus dem Mund Putins und der russischen Propagandisten. Der Kremlchef will seinen Willen mit Terror durchsetzen, und wo es ihm nicht mit Gewalt gelingt, tut er dies, indem er die vitalen Instinkte der Nationen korrumpiert und lähmt.
Der Elefant im Raum
Je länger der Krieg dauerte und es der ukrainischen Armee gelang, mit Hilfe der freien Welt Widerstand zu leisten und sogar einige Gebiete zurückzuerobern, beruhigten wir uns etwas in der Moldau. Wir erkannten, dass wir uns in einer parallelen Realität zu der am 24. Februar 2022 scheinbar einzig denkbaren befanden, dem Siegeszug der Russen bis zum Pruth. Zwar kam die Energiekrise über uns, aber wir sind frei, wir haben Frieden, wir können unsere Leben weiterführen. Der Schrecken der ersten Tage hat sich in ein starres Gefühl der Angst verwandelt, die Zerstörung um uns herum gehört zum tristen Alltag, so wie die Pandemie zu einer Erinnerung wurde, auch wenn die tiefen Furchen, die sie in so vielen Familien hinterlassen hat, niemals heilen werden.
Wir haben uns so sehr an den "Krieg der Anderen" gewöhnt, dass viele Moldauer ihn lieber ignorieren. An Geburtstagen oder Jubiläen, Weihnachten oder Ostern besprechen sie alles andere als die Tragödie um sie herum. Das Thema wird einfach ignoriert, manchmal aus Anstand oder aber, um Streit "unter Verwandten" zu vermeiden. Die Moldau ist geteilt. Themen wie nationale Identität, europäische Integration, NATO-Beitritt oder die Union mit Rumänien sind heikle Linien, wahre Minen mit verzögerter Wirkung. Es ist die gleiche Situation, die wir Anfang der 1990er Jahre hatten, mitten in Gorbatschows Perestroika, als die Öffnung der totalitären "Schleuse", die rumänische Sprache, das lateinische Alphabet, die lang verschütteten Wahrheiten der Geschichte Themen waren, die den Frieden in der Gesellschaft störten - und das nicht nur in gemischten Familien, in denen beide Sprachen, Rumänisch und Russisch, gesprochen wurden.
Wenn ich heute, inmitten der russischen Aggression in der Ukraine, an Familienfesten teilnehme, habe ich oft den Eindruck, dass im selben Raum mit uns ein Elefant ist, den wir vorgeben, nicht zu sehen, obwohl er mit einer einfachen Bewegung den Tisch umwerfen und das Geschirr zerschlagen könnte. Dabei wäre es einfach, ihn zu bemerken: Ein aufmerksames Ohr würde uns helfen, die Echos russischer Bomben zu hören, die auf ukrainische Städte fallen.
Und genau das passiert. Irgendwann bringt jemand die hohen Energierechnungen zur Sprache, die er im Briefkasten gefunden hat, und beginnt, die Regierung dafür verantwortlich zu machen. Die pro-europäische Staatspräsidentin Maia Sandu wird beschuldigt, nicht zu Putin gegangen zu sein, um billigeres Gas für die Moldau zu verlangen. Sofort taucht ein Zweiter auf, der sich über ukrainische Flüchtlinge beschwert, dass es zu viele gebe, dass sie zu arrogant seien, dass sie beste Bedingungen und Zulagen hätten, die vom Mund moldauischer Kinder, vom Tisch unserer Alten genommen würden.
Du antwortest ihnen, du erklärst ihnen, du versuchst, ihre Verirrungen mit Argumenten zu bekämpfen, du sagst ihnen, dass Putins Krieg die Preise auf der ganzen Welt in die Höhe getrieben hat. Du beschwörst die Leiden unserer Großeltern während der grausamen Stalin-Zeit herauf, du ziehst eine Parallele zur großen Fluchtbewegung der Bessarabier vom Juni 1940, vom Stacheldraht, der ganze Familien getrennt hat. Du forderst sie auf, sich in die Lage der heutigen Vertriebenen aus der Ukraine zu versetzen, die ihr ganzes Hab und Gut hinter sich lassen mussten. Und während du sprichst, wird deine Stimme lauter, du regst dich auf, weil du das Verharren deiner Mitmenschen in Ignoranz und Unwissenheit, das Fehlen jeglichen Mitgefühls nicht mehr ertragen kannst. Einige der Gäste beruhigen sich etwas, wenden die Augen ab, versuchen, das Thema zu wechseln, aber es ist nicht mehr dasselbe wie vor dem Gespräch. Du erhebst dich mit einem bitteren Beigeschmack vom Tisch.
Die Verschwörung der Banditen
Russlands hybrider Krieg in der Republik Moldau ist auf genau diese Art von Desinformation ausgelegt, die Verwirrung und Feindschaft zwischen Brüdern und Schwestern, Nachbarn, Eltern, Kindern, Verwandten stiftet. Damit dann, wenn die russischen "Befreier" kommen, um die Moldau vom "rumänischen Traum" und der europäisch geprägten "Häresie" zu heilen, sich ihnen niemand widersetzt.
Ein Jahr nach Kriegsbeginn in der Ukraine ist das Gefühl der Unsicherheit zurückgekehrt. Doch dieses Mal rufen die Informationen über einen möglichen, von Russland orchestrierten Staatsstreich durch flüchtige Oligarchen und bezahlte Proteste mehr Wut als Angst hervor. Das wäre die Höhe, sagst du dir, so schwach, so blind, so charakterlos zu sein, sich von Banditen auf dem Tablett an Putin servieren zu lassen. Das wird nicht passieren, der Widerstand der Ukraine gibt uns die Gelegenheit, unser Haus in Ordnung zu bringen, den sowjetischen Moder ein für alle Mal zu beseitigen. Und unseren Dank den vielen Soldaten auszusprechen, die weit weg in den Schützengräben im Donbass gegen die wilde Horde russischer Orks kämpfen. Ruhm der Ukraine! Kopf hoch, Moldau!
Vitalie Ciobanu gehört zu den bekanntesten Schriftstellern und Publizisten der Republik Moldau. Er ist Präsident des moldauischen PEN-Clubs.
Mit der Kolumne "Mein Europa" bietet die DW Persönlichkeiten aus dem Kulturleben und der Wissenschaft Mittel- und Südosteuropas Raum, ihre persönliche Sicht auf europäische Themen darzustellen. "Mein Europa" zeigt diverse Perspektiven auf und soll zu einer demokratischen Debattenkultur beitragen.
Adaption aus dem Rumänischen: Robert Schwartz