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Politik

Die Erinnerung: Mensch statt Nation

Stanislaw Strasburger
9. März 2018

In Polen wird zurzeit viel darüber gestritten, wie man über den Holocaust sprechen kann und soll. Stanislaw Strasburger setzt sich für eine grundlegende Veränderung des Diskurses ein.

Stanislaw Strasburger
Bild: Mathias Bothor

Im Holocaust gab es "polnische Täter, so wie es jüdische Täter gab", antwortete der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bei der Münchener Sicherheitskonferenz Mitte Februar einem Journalisten. Der Journalist hatte von seiner jüdischen Mutter erzählt, die während der Nazi-Besatzung im Zweiten Weltkrieg von ihren polnischen Nachbarn denunziert werden sollte und gerade noch rechtzeitig die Flucht ergriff. Knapp einen Monat nach der Konferenz sorgen die Worte von Morawiecki weiterhin für Aufsehen - nicht nur in Polen und Europa, sondern auch in Israel und in den USA.

"Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch", schrieb Theodor W. Adorno im Jahr 1951. Der berühmte Philosoph relativierte später sein radikales Misstrauen gegenüber der Kultur (und somit auch der Sprache) im Umgang mit dem Grauen. Doch das Problem bleibt bis heute: Wie sollen wir über den Holocaust sprechen?

Was sagen uns die Wörter

Der mediale Wirbel um die Aussage von Morawiecki verdunkelt gerade dieses Problem. Was für Begriffe benutzen wir, um vom Grauen unserer jüngsten Vergangenheit zu berichten? Und was genau verstehen wir unter Wörtern, die so eindeutig wirken, wie "Täter" und "Opfer"?

Morawiecki bei der Sicherheitskonferenz: "Es gab polnische Täter, es gab jüdische Täter"Bild: Getty Images/AFP/T. Kienzle

"In der Holocaustforschung sind drei Begriffe verbreitet, die von Raul Hilberg vorgeschlagen worden sind: Täter (perpetrators), Opfer (victims) und Zuschauer (bystanders)", erklärte Prof. Andrzej Żbikowski vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Das Nachrichtenportal Oko press interviewte den Historiker anlässlich des Auftrittes von Morawiecki. "Täter werden grundsätzlich Nazis genannt", führte Żbikowski aus, "gegebenenfalls auch die Vertreter der mit den Nazis zusammenarbeitenden Einrichtungen oder Verbände, seien es zum Beispiel litauische, ukrainische oder weißrussische. (…) Juden können nicht als Täter bezeichnet werden."

Das Besondere der genozidalen Verfolgung kann man nämlich so darstellen: Der eigenen Opferrolle kann nicht abgeschworen werden. Bin ich einmal von den Nazis als "Jude" eingeordnet, so ist mein Schicksal besiegelt. Daran kann sogar meine Kollaboration nichts ändern. Werde ich dagegen zum Beispiel als "Kommunist" verfolgt, habe ich zumindest theoretisch eine Wahl: Ich könnte meine Weltanschauung aufgeben und hätte so eine Chance zu überleben. Auch wenn es um Täter unter den eigentlichen Opfergruppen geht, bietet der geschichtswissenschaftliche Diskurs differenzierte sprachliche Werkzeuge an. In Bezug auf Nazi-Kollaborateure spricht man zum Beispiel von "abgeleiteter Macht".

"Die Dinge beim Namen nennen"

Es bleibt unklar, ob sich Morawiecki gegen diesen Sprachgebrauch auflehnen wollte oder schlicht seine Wissensdefizite offenbarte. Hinzu kommen fehlende Empathie und offensichtliches politisches Missgeschick. Doch eine derartige Verwirrung ist bezeichnend.

Bogusław Chrabota, Chefredakteur der angesehenen Tageszeitung "Rzeczpospolita", bescheinigte den Polen kürzlich in einem sarkastischen Kommentar, dass sie sich allzu gerne "einen absurden Wettkampf leisten, in dem sie sich immer wieder aufführen, als machten sie sich als Opfer [der Geschichte] genauso gut wie die Juden". Denn in der Debatte um Morawiecki vertritt ein Teil der Menschen im Land folgenden Standpunkt: Endlich hat jemand den Mut und "nennt die Dinge beim Namen". "Jüdische Täter" seien eine berechtigte Bezeichnung. Vor allem immer dann, wenn schon von "polnischen Tätern" die Rede sein soll.

Dunkle Flecken der Geschichte: Gedenkstätte für die Opfer des Pogroms an Juden in der polnischen Kleinstadt Jedwabne 1941Bild: picture-alliance/dpa/E. Krafczyk

Abstand von der Sprache der Täter

Was tun? Medialer Wirbel und Versuche direkter, politischer Einflussnahme darauf, wie ein polnischer Premierminister zu sprechen hat, sei es aus Washington, sei es aus Tel Aviv oder Berlin, werden von den inländischen Machthabern hochgespielt und erwecken so bei vielen polnischen Bürgern nur noch Zorn. Sie höhlen den ohnehin schwindenden Glauben an die Demokratie aus: Nicht nur Europa, Wirtschaft und Verteidigung sollen sich dem Diktat der Mächtigsten unterwerfen, sondern nun auch die Erinnerung. Anstatt Reflexion und Dialog, fördern sie Polarisierung und einen Konfrontationskurs. Und das sowohl nach innen, wie auch nach außen: Man rüstet zum Krieg auf. Bislang nur zu einem Sprachkrieg.

Der Kommentar von Chrabota stammt aus der Wochenendbeilage der "Rzeczpospolita", die mit einem Davidstern versehen wurde, bestehend aus zwei ineinander verflochtenen Fahnen: einer polnischen und einer israelischen. Der Titel lautete: "Wir sind ein Volk".

Ich persönlich würde gerne einen Schritt weiter gehen. Haben wir es denn nötig, die Erinnerung nach vermeintlichen ethnischen Zugehörigkeiten zuzuteilen? Die Täter haben ihren Opfern das individuell Menschliche immer als Erstes zu nehmen versucht. Lässt sich nicht gerade deswegen das Grauen vor allem existenziell erzählen? Die nationale, willkürliche Etikettierung war die Sprache und zugleich das Werkzeug der Täter. Es ist an der Zeit, von dieser Sprache endgültig Abschied zu nehmen.

Stanisław Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Sein Roman: "Der Geschichtenhändler" erschien soeben auf Deutsch. Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. 

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"