Mein Europa: ein flüchtiger Blick
7. Oktober 2016Ich befürchte, dass wir Griechen unseren Blick auf Griechenland fokussiert haben, da wir selbst nun einmal bis zum Hals in den Problemen unseres eigenen Landes stecken, und so nur einen flüchtigen Blick auf Europa werfen.
Dennoch, wir verfolgen die Entwicklungen und stellen fest, dass die Europäische Union immer weiter in eine Sackgasse gerät. Die meisten Experten aus Politik, Wirtschaft und Medien hatten nach der Brexit-Entscheidung erwartet, dass England das Land sein werde, das mit den schwierigsten Problemen zu kämpfen hätte. Wir stellen aber jetzt fest, dass stattdessen das Brexit-Votum alle Schwachstellen und Verzerrungen der EU sichtbar gemacht hat.
Vor zehn Tagen kamen im Vorfeld des informellen Gipfels von Bratislava eine Reihe von Erklärungen von Politikern und hochrangigen ΕU-Beamten ans Licht, die eine gewisse Verlegenheit und Verzagtheit der Führer Europas verrieten. Das Gleiche geschah auch beim Gipfel selbst: Die führenden Politiker Europas einigten sich alle miteinander auf eine eher feige allgemeine Erklärung. Sie waren für den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das Ergebnis ist, dass dieser gemeinsame Nenner die Probleme auf keinen Fall löst, sondern sie einfach vertagt.
Plötzlich: eine unverblümte Sprache
Die erste dieser Erklärungen kam vom Außenminister Luxemburgs, Jean Asselborn. Er meint, dass Ungarn mit dem doppelten Stacheldraht an seinen Grenzen und der vollkommenen Missachtung der Brüsseler Regeln keinen Platz in der Europäischen Union habe. Plötzlich hatten wir da den Minister eines EU-Landes, der zum ersten Mal unverblümt über ein anderes europäisches Land seine Meinung mitteilte. Seine Erklärung hatte nichts mit dem üblichen Thema, mit Wirtschaftspolitik, zu tun, sondern mit dem ethischen Verhalten des Landes als Mitgliedstaat.
Bislang waren wir an täglich neue Vorwürfe über die Wirtschaftspolitik und das Nichteinhalten von Vereinbarungen gewöhnt, zuallererst wir in Griechenland, aber auch die anderen Länder des Südens. Im Gegensatz dazu betrifft jetzt die Erklärung des Außenministers von Luxemburg die gemeinsamen ethischen Regeln im Zusammenleben der EU-Mitgliedstaaten und die Einhaltung dieser Regeln durch seine Mitglieder.
"Wieso wollen sie Flüchtlinge ausgrenzen?"
Damit war er nicht allein. Einen Tag nach dem Ende des informellen Gipfels in Bratislava schrieb Thorsten Denkler, ein sehr verlässlicher Redakteur der Süddeutschen Zeitung, dass bei allen Ländern, die fordern, dass die Regeln über die Verteilung der Flüchtlinge "flexibel" angewandt werden sollen, diese "Flexibilität" dann auch beim Nutzen gelten müsse, den diese Länder aus der Europäischen Union ziehen.
Diesen Vorschlag habe ich zum ersten Mal gelesen, obwohl der Satz an den Lippen vieler Bürger hängt: "Wieso wollen sie Flüchtlinge ausgrenzen? Erst die EU-Vorteile genießen, dann aber für die Gejagten nichts tun? Nein! Das ist doch gegen unsere christliche Tradition! Dann müssen wir doch unsererseits darauf achten, dass ihnen auch keine EU-Vorteile eingeräumt werden!"
Da wir in Griechenland unter einer populistischen und opportunistischen Regierung mit linkem Diskurs leiden, neigen einige von uns dazu zu glauben, dass das Problem in Europa die Linke sei. Nun sehen wir jedoch, dass das nicht zutrifft. Wir sehen einige Länder des ehemaligen Ostblocks, wie Ungarn und Polen. Sie bewegen sich auf einen rechten Nationalismus zu und lehnen, direkt oder indirekt, die liberale Demokratie ab. Sie streben ein Regime à la Putin an. Und das ist das Problem.
Die griechisch-deutsche Schriftstellerin Eleni Torossi ist in Athen geboren, verließ aber Griechenland während der Militärdiktatur und lebt seit 1968 in München. Sie hat mehrere Bücher in deutscher und griechischer Sprache veröffentlicht, zuletzt den Roman "Als ich dir zeigte, wie die Welt klingt". Im Jahr 2009 bekam sie das Bundesverdienstkreuz verliehen.