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Politik

Erdogans Spiel mit der Identität

Kemal Hür
25. Mai 2018

Weil Erdogan in der EU keinen Wahlkampf führen darf, pilgerten am vergangenen Wochenende Tausende Deutsch-Türken zu seinem Auftritt in Sarajevo. Kemal Hür warnt vor einfachen Antworten wie Integrationsmangel.

DW Quadriga - Kemal Hür
Bild: DW

Der rassistische Brandanschlag auf ein türkisches Familienhaus in Solingen jährt sich am 29. Mai zum 25. Mal. Fünf Mädchen und Frauen der Familie Genc wurden damals ermordet. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) nahm nicht an der Trauerfeier teil. Sein Regierungssprecher Dieter Vogel verwies auf die "weiß Gott anderen wichtigen Termine" des Kanzlers und erklärte, man müsse nicht "in Beileidstourismus ausbrechen".

Einiges hat sich geändert seit diesem Ereignis. An der Gedenkveranstaltung kommende Woche wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) teilnehmen. Auch der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu wird anreisen. Es war der ausdrückliche Wunsch von Mevlüde Genc, der Mutter, Großmutter und Tante der Mordopfer, dass deutsche und türkische Regierungsvertreter an der Gedenkfeier teilnehmen.

Die 75-jährige Genc bemüht sich seit dem Anschlag um Versöhnung und wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Als ich sie vor fünf Jahren in ihrem neuen Haus in Solingen besucht und interviewt habe, hatte ich keine Sekunde lang Zweifel an ihrer Einstellung, Hass abzulehnen, zu vergeben und für ein Miteinander einzustehen. Eine beeindruckend starke Frau, die sich bereits 1996 bewusst für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden hat. "Ich lebe in Deutschland, also will ich Deutsche sein", hatte sie ihre Entscheidung damals begründet.

Lebenswelten sind längst multipolar

Völlig anders verlief offensichtlich die Entwicklung eines anderen Mitglieds der Familie: Kamil Genc, zwei Generationen jünger als Mevlüde Genc. Der junge Mann präsentiert sich auf Twitter mit einem Slogan, der sich für Deutsche pathetisch anhören mag, den aber jeder aus der Türkei stammende Leser als den Leitgedanken der türkischen Nationalisten und Faschisten erkennt: "Eine Fahne, eine Sprache, eine Nation." Seine Fahne, Sprache und Nation sind türkisch. Seine Facebook-Seite macht ausschließlich Propaganda für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Und so überrascht es dann nicht mehr, dass Kamil Genc sich von Solingen aufmacht, um seinen Präsidenten in Sarajevo bei einem Wahlkampfauftritt zu sehen.

Das viel diskutierte deutsch-türkische Verhältnis spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab und ist genauso schwer zu analysieren, wie die diametral entgegengesetzten Einstellungen der beiden Mitglieder einer Familie.

Verfolgen wir aber die Diskussionen in den Medien und vor allem in den sozialen Netzwerken, begegnen uns sehr einfache Antworten: mangelnde Integration, heißt es dort oft. Eine banale Annahme, die gerne herangeführt wird, wenn Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft entstehen.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass unsere Lebenswelten längst multipolar sind und die Menschen hybride Identitäten haben. Mesut Özil kann in dieser Welt ein deutscher Nationalspieler und ein Anhänger des türkischen Präsidenten gleichzeitig sein, auch wenn ich seinen Fototermin mit Erdogan moralisch verwerflich finde. Bekir Alboga kann der Dialogbeauftragte der türkischen Muslime in Deutschland sein und für Erdogans Partei in der Türkei kandidieren. Kenan Kolat, lange Jahre der Sprecher der Türken in Deutschland, kann im erweiterten Bundesvorstand der SPD sein und trotzdem für die türkische Partei CHP antreten.

Erdogan bei seinem Auftritt in SarajevoBild: picture-alliance/AP Photo/Presidential Press Service

Erdogan verhilft Anhängern im Ausland zum Selbstbewusstsein 

Was wäre die Definition von Integration, wenn wir diesen drei öffentlichen Personen mangelnde Integration vorwerfen würden? So verzwickt und kompliziert ist auch die Frage, warum mehr als 10.000 Auslandstürken mit Bussen und Autos mehr als 1.000 Kilometer weit fahren, nur um eine 40 Minuten lange Wahlkampfrede von Erdogan in Sarajevo zu hören. Die türkischen Fernsehsender strahlen sowieso jeden Auftritt des Alleinherrschers live aus. Es ist ebenso schwer zu verstehen, warum mehr als 60 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland von allen demokratischen Rechten profitieren, sich frei in politischen und religiösen Vereinen organisieren können, in der Türkei aber für einen Mann stimmen, der die Gewaltenteilung de facto aufgehoben hat, jeden Kritiker ins Gefängnis werfen lässt, eine freie Presse nicht zulässt und das Land seit dem gescheiterten Putsch allein regiert. Erdogan agiert wie ein Mafiaboss, der die Politik als Mittel zum Selbstschutz missbraucht.

In den Augen seiner Wähler aber ist er der starke Mann, der erstmals in der türkischen Geschichte auf gleicher Augenhöhe mit den Europäern spricht. Ein Politiker, der selbstbewusst auftritt und der seinen Anhängern im Ausland zu Selbstbewusstsein verhilft. Der Türke ist in Deutschland nicht mehr der kleine Gastarbeiter oder Migrant. Sein Präsident steht mit den Mächtigen der Welt auf einer Stufe. Sich mit ihm auf einem Foto zu zeigen, ist nicht peinlich, sondern erfüllt den kleinen Türken, auf den sonst immer herabgeschaut wurde, mit Stolz.

Eine Frage des Demokratieverständnisses 

Die Unterstützung von Erdogan durch Deutsch-Türken ist nicht allein eine Integrationsfrage. Es ist mehr noch eine Demokratiefrage, eine Frage des Demokratieverständnisses, ja auch der Bildung. Ist Özil nicht integriert, oder spielt diese Frage für den Weltstar und Multimillionär, der überall auf der Welt leben und arbeiten könnte, keine Rolle mehr? Wichtiger wäre die Frage, wieviel ist ihm die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei wert? Und ist er sich seiner Verantwortung als "Musterbeispiel einer gelungenen Integration in Deutschland" bewusst? Wie politisch gebildet und informiert ist er, dass er wissen müsste, dass Erdogan bei der bevorstehenden Wahl zum Präsidenten jede Stimme auch der Auslandstürken braucht und den Fototermin für seinen Wahlkampf missbraucht?

Ob diese Fragen auch die Unterstützer von Erdogan beschäftigen, die ihm überall hin folgen, bezweifle ich. Genauso wie ich auch die These bezweifle, dass sie den türkischen Despoten unterstützen, weil die deutsche Politik sie permanent ausgrenzt. Auch das ist eine zu einfache Antwort.

Mevlüde Genc hat zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren. Sie spricht kaum Deutsch, aber sie bekennt sich zu Deutschland und zum friedlichen Zusammenleben. Wenn wir uns Mühe geben, diese Frau zu verstehen, verstehen wir irgendwann vielleicht auch das komplizierte deutsch-türkische Verhältnis.

Kemal Hür, geboren in Ostanatolien, lebt seit 1980 in Berlin, hat hier Germanistik, Soziologie und Theaterwissenschaft studiert und arbeitet aktuell als freier Journalist hauptsächlich für die Programme des Deutschlandsradios.

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