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Politik

Mein Europa: Gefälschte Nationalgeschichten

Ivaylo Ditchev
3. März 2017

Die Länder an der europäischen Peripherie versuchen durch Geschichts-Imitate, an die Traditionen des Westens anzuknüpfen. So entsteht eine Kitsch-Industrie, durch die Eliten ihre fehlende Legitimität verbergen wollen.

Ivaylo Ditchev
Bild: BGNES

Der Balkan ist die älteste Peripherie eines sich modernisierenden Europa. Und an dieser Peripherie wird seit einem Jahrhundert jene Kulturpolitik betrieben, die streng genommen auf die Produktion von Kitsch hinausläuft. Das verhasste Eigene tilgen und sich das prestigeträchtige Fremde einverleiben - nach diesem Prinzip werden in der Region Nationen aufgebaut. Zum Instrumentarium gehören: Bronzemachthaber hoch zu Ross oder Sowjetgeneräle (je nach Region), barocke Opernhäuser und klassische Wandmalereien, Nationalmythen, Nationalhelden und "friedensstiftende" Nationaldichter.

In einem unnatürlichen Milieu sehen diese Import-Kulturgüter nicht nur fremd, sondern auch dekorativ aus: so das feierlich barocke Parlament in Tirana (in Albanien, mit seinem bis in die 1990er-Jahre eher bescheidenen parlamentarischen Leben) oder die monumentale griechische Nationalbank, die finanziell immer wieder auf der Kippe steht.

Westeuropa als Vorbild

Die Tourismus-Völker an der europäischen Peripherie versuchen so schnell wie möglich, durch Imitate den Vorsprung des Westens aufzuholen. Unter dem Motto: Was die Westeuropäer haben, das haben wir auch - doppelt und dreifach sogar! Auch wir sind stolze Nationen, wie die Westeuropäer, obwohl wir eigentlich alle Institutionen verachten und unsere eigene Intelligenzija hassen. Dafür aber haben wir unsere grimmigen Helden auf allen Plätzen.

Einheimische sprechen von Disneyland: das Denkmal "Car Dusan" im Zentrum von Skopje Bild: Makfax

Die neue Zeit hat diese Kitschindustrie kommerzialisiert. Anstatt sich um die Nachahmung alter heroischer Vorbilder aus dem Westen zu bemühen, versuchen sich die Balkanesen in jüngster Zeit mit Popkultur-Imitaten. Wenn man in Skopje vom Bahnhof zur Vardarbrücke und zu der alten Handelsstraße spazieren geht, entdeckt man das vielleicht mit Denkmälern am dichtesten bebauten Terrain in der Welt. Es ist eine Stilistik der Archivierung, die sich irgendwo zwischen Hollywood und Madame Tussauds einordnen lässt. Auf dieser Weise versucht der junge Staat, sich einen Platz in der Geschichte zu erkämpfen, zwischen drei eifersüchtigen Nachbarn, die ihn alle als Teil ihres eigenen Staatsgebietes betrachten.

Der Balkan und seine Turbodenkmäler

Im Kosovo bekam der ehemalige US-Präsiden Bill Clinton (der Serbien bombardieren ließ) ein Denkmal, das er höchstpersönlich einweihen durfte. Auch die Abbildungen von George Bush Senior und von Tony Blair sind im Kosovo museumsmäßig verewigt. Die Serben ihrerseits, die den Wahnsinn mehrerer Kriege erleben mussten, haben sich stilistisch und thematisch eher zu den globalen Helden der Popkultur orientiert. Das Dorf Žitište wurde durch eine Statue des Boxers Rocky Balboa aus den bekannten Sylvester-Stallone-Filmen weltweit bekannt. Und mit der Bruce-Lee-Statue im bosnischen Mostar wollte man quasi die Uhr zurückdrehen - zu den Zeiten, als Serben, Kroaten und Bosniaken zusammen seine Filme gesehen haben. Nach dem Turbo-Folk und dem Turbo-Kapitalismus entstand auf dem Balkan ein neues Turbo-Wort: die Turbodenkmäler.

Das Parlament in Tirana - Größe ohne HintergrundBild: DW/A. Muka

Bulgarien sucht seinen Platz in dem Kitsch-Wettbewerb durch den massenhaften Bau von Festungen. Es mangelt an nichts: Türme und Katapulte sind da, Schießscharten und Hängebrücken, plus eine von den Bauherren gelieferte geschichtliche Legende. Waschechte Festungen, die allerdings für kleines Geld - weil nach Muster und massenhaft - gebaut werden können. Mittlerweile wurden 35 solche Objekte errichtet, alle auf sehr zweifelhaften geschichtlichen Füßen stehend und gegen den lauten Protest der Historiker-Fachwelt. Meistens geht es dabei nur um die EU-Finanzierung, die üblicherweise über das Europäische Programm für Regionalentwicklung beantragt wird. Ob aber diese Festungen tatsächlich für Einnahmen aus dem Tourismus sorgen werden? Viele Experten glauben nicht, dass sich der deutsche Tourist unbedingt für eine falsche Festung interessieren wird, wo er in mittelalterlicher Bekleidung mit seiner Frau das Schwert kreuzen darf.

Kitschige Nachahmungen

Aber warum gerade römische und mittelalterliche Festungen? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil sich Bulgarien verzweifelt bemüht, sich als Teil des Westens aufzuspielen, als Bestandteil der römischen und der christlichen Tradition. Genauso hat sich das Land in der kommunistischen Zeit aus Konjunkturgründen dem Slawentum angebiedert. Die ganzen verpassten Jahrhunderte könne man mit einer kitschigen Nachahmung flugs nachholen, so ist die Denke. Ein paar Imitate, ein falsches Wappen - und das historische Unrecht ist korrigiert. Man ist plötzlich ebenbürtig mit denen, die eine echte glorreiche Vergangenheit vorweisen können.

Touristen in einer nachgebauten Burg in Bulgarien: Kitsch im Hollywood-StilBild: BGNES

Aber warum ist diese Form von Kitsch so wichtig auf dem Balkan? Meine Antwort lautet: Weil dort die Elite nicht legitimiert ist. Weil diese Elite meistens ganz zufällig und nur aufgrund chaotischer Zustände an die Spitze geraten ist. Und weil sie keine echten, hausgemachten Ressourcen und Fähigkeiten hat, um an der Macht zu bleiben. Deswegen auch ihre verzweifelten Versuche, sich an irgendeinem "Ausland" festzuhalten, das auch sie legitimieren könnte. Die fremde Tradition, obwohl nur billig nachgemacht, benutzen sie als Schulterstück an ihrer Uniform der Macht. Sie wirkt so absurd wie die Perücken, welche die Richter in den ehemaligen britischen Kolonien in Afrika tragen, nur um die Tradition aufrecht zu erhalten.

Ivaylo Ditchev ist ein bulgarischer Schriftsteller, Kulturanthropologe und Professor an der Universität in Sofia. Er unterrichtete auch an der Universität Paris-7 in Frankreich und hat mehrere Auszeichnungen für seine Publizistik in Bulgarien bekommen.