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Politik

Mein Europa: Heimat, der Traum von der heilen Welt

Stanislaw Strasburger
1. Dezember 2017

Ist es zu Hause immer gut, und Gefahren lauern allein in der Fremde? Warum wollen dann gerade so viele junge Menschen weg von ihrer Heimat? Oder ist das ein Fehler? Stanislaw Strasburger sucht Antworten.

Stanislaw Strasburger
Bild: Mathias Bothor

Abgesehen von den Gassen unserer Stadt und von unseren Gewohnheiten - abgesehen von den Bindungen unserer Blutsverwandtschaft - ist der Rest der Welt ein grausamer Dschungel, in dem nur Schurken überleben können. So predigten es die Großeltern dem Protagonisten des "Polnischen Reiters". Doch der wollte schon immer weg. Der preisgekrönte spanische Schriftsteller Antonio Muñoz Molina beschreibt, wie Manuel seit seiner Kindheit davon träumt, aus seiner kleinen Heimat, dem andalusischen Städtchen Magina, zu flüchten. Er wollte Weltbürger sein: fremde Sprachen sprechen und in den wichtigsten Metropolen der Welt leben - Paris, New York oder Brüssel.

Prägende Stimmen

Wie es sich für einen rebellierenden Jugendlichen gehört, hörte Manuel "The Doors". Wieder und wieder spielte er "Riders on the storm" und "Break on through" ab. So brachte er sich Englisch bei, denn in den 1960er-Jahren standen in spanischen Schulen keine Fremdsprachen auf dem Lehrplan. Später wurde Manuel Simultanübersetzer und sein Traum wurde wahr.

Irgendwann Mitte Dreißig hörte er wieder die Stimme seines Großvaters zu sich sprechen. Und plötzlich erschien sein ganzes Leben missglückt. Die Stimme des Opas sagte: "Wenn du noch einen Schritt weiter machst, dann gibt es kein Zurück mehr. Du wirst für immer zu einem Fremden. Es wird keinen Ort für dich geben, der dir so viel bedeutet, dass du dich dort würdest aufhalten wollen. Denn jeder Mensch hat nur eine Sprache und eine Heimat, vielleicht auch nur eine Stadt und eine Landschaft."

"Jeder Mensch hat nur eine Sprache und eine Heimat", sagte OpaBild: Simone Falk

Wer hat nun Recht - Manuel oder sein Opa? Sind wir Menschen dazu verdammt, als Jugendliche davon zu träumen, ein neues, ein anderes Leben zu leben, jenseits der einengenden Grenzen unserer verklemmten Heimat, um dann Jahrzehnte später den Alten Recht zu geben und reuevoll ins Elternhaus zurückzukehren?  

Das Böse da draußen

Mir persönlich haben meine Eltern (und meine beiden Großmütter) in meiner Kindheit nicht gepredigt, die ferne Welt sei ein grausamer Dschungel. Auch wenn es in der letzten Dekade des Eisernen Vorhangs genügend Gründe dafür gegeben hätte: Ein Großteil meiner Familie ist im Zweiten Weltkrieg ermordet worden, eine mögliche Konfrontation mit dem verfaulten Kapitalismus lag in der Luft.

Ich habe von Zuhause eine andere Lehre mit auf den Weg genommen: Das Böse der Welt macht vor unserer Stadt und der Blutsverwandtschaft keinen Halt.

Aktuell zeigt dies auch die Kampagne #MeToo in den Sozialen Medien. Eine Unzahl von Menschen, zumeist Frauen, berichten von ihren zum Teil traumatischen Erfahrungen. Manche machten sie in der Fremde oder mit Fremden, aber ganz viele in der nächsten Umgebung: als Kinder zu Hause und unter Verwandten, im beruflichen Alltag und im engsten gesellschaftlichen Umfeld. Wer bislang geneigt war zu denken, nur fremde Schurken belästigen und vergewaltigen, braucht dringend eine Aktualisierung.

Was sagt mir das? Die heile, heimische Welt ist ein Traum. Sie ist eine Utopie.

Auf persönlicher, existenzieller Ebene begleitet sie den Menschen seit jeher. Für manche mag dieser Traum ein Glücksbringer sein. Für andere erzeugt er Druck. In familiärer Umgebung wird dieser Traum häufig zur Wahrheit verklärt, dabei ist er allzu oft nichts weiter als eine Lüge. Letztlich ist es also ein Zufall, wo einem das Böse der Welt begegnet: in unserer oder in der fremden Stadt.

Das Böse der Welt macht vor unserer Tür keinen Halt.Bild: Simone Falk

Auf die politische Ebene übertragen, mutiert die Lüge von der heilen, heimischen Welt oft zu einem Machtinstrument. Gemeinsam mit dem Begriff der Nation und der Identität gehört diese Lüge zu den trügerischen Erfindungen des 19. Jahrhunderts. Ohne sie wäre die Mobilisierung und das Fanatisieren von Millionen Menschen nicht möglich gewesen, die im 20. Jahrhundert bereit waren, ihr persönliches Glück zu opfern, ihre Familien zu verlassen und in Kriege zu ziehen, um sich gegenseitig zu morden. Heimat auf der Ebene der Politik ist ein explosives Gut.

Menschen als Heimat

Muñoz Molinas Protagonist schafft es, sich der zerstörerischen Kraft der Utopie der Heimat auf beiden Ebenen zu widersetzen. Seine Erinnerung greift tiefer als die Stimmen der Großeltern. Er berichtet über das Leid seiner Nächsten, auch wenn sie selbst dazu schweigen.

Nach einer wirren Suche findet Manuel seine Heimat in ... der Liebe. Ganz wie es in einem seiner Lieblingssongs von "The Doors" heißt. Die Stimme von Jim Morrison hat sich durchgesetzt: "I found an island in your arms / Country in your eyes."

Ich persönlich stehe auf der Seite von Manuel. Für mich sind es Menschen, die meine Heimat ausmachen. Sie können an meinem Geburtsort leben oder auch ganz weit weg von dort. Ich freue mich immer wieder ihnen dort zu begegnen, wo sie leben. Ähnliches gilt auch für mich selbst. Es gibt mehrere geographische Orte, an denen ich mich gerne aufhalte. Meine Geburtsstadt Warschau ist nur einer davon.

 

Stanisław Strasburger wurde in Warschau geboren. Er ist Schriftsteller und Kulturmanager. In Buchform sind von ihm erschienen: "Besessenheit.Libanon" und "Der Geschichtenhändler". Er lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins "Humanismo Solidario".

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"