Sonntag ist Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. Aber erinnern allein reicht nicht, meint Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma. Rassismus und Nationalismus müssen entschieden bekämpft werden.
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Am 2. August 1944 wurden die letzten noch im sogenannten "Zigeunerlager" lebenden 4300 Sinti und Roma in den Gaskammern des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ermordet. Dieser Tag ist Symbol für den Holocaust der Nazis an über 500.000 Sinti und Roma im besetzten Europa.
Wir gedenken dieser Opfer. Wir gedenken aller Opfer des Völkermords an den Sinti und Roma, und wir gedenken aller Opfer des Nationalsozialismus. Dieser Tag ist für Sinti und Roma in ganz Europa von großer Bedeutung. Das Gedenken an die Opfer des NS-Völkermords ist fester Teil unserer Identität geworden.
Das Europäische Parlament hatte den 2. August vor fünf Jahren zum Europäischen Gedenktag erklärt und die EU-Mitgliedsstaaten sind nach wie vor aufgefordert, den 2. August in ihren Ländern zum Gedenktag an den Holocaust an Sinti und Roma zu erklären. Die Republik Polen hat als erster Staat in Europa den 2. August als Gedenktag anerkannt.
Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus werden gewalttätiger
Europa steht angesichts eines in vielen Ländern etablierten rassistischen Nationalismus vor großen Herausforderungen. Das Bewusstsein für unsere Demokratie, für den Rechtsstaat und für unsere europäischen Werte ist nicht mehr länger Garant für den Bestand unserer Demokratie, wenn nationalistische Parteien und Regierungen in vielen europäischen Ländern in genau diesem rassistischen Nationalismus bestätigt werden.
Wir erleben seit langem, wie sich der Hass gegen Sinti und Roma, gegen Juden und andere Minderheiten immer mehr verbreitet. Die Anschläge in Halle im Oktober des vergangenen Jahres oder in Hanau im Februar 2020 sind nur die jüngsten Beispiele in Deutschland für einen immer gewalttätiger werdenden Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus.
Spaltung der Gesellschaft bedroht Roma
Sinti und Roma sind seit über 700 Jahren in den Ländern Europas ansässig, wir sind Staatsbürger in unseren Heimatländern. Es waren die Nazis, die uns zuerst erfasst und ausgegrenzt, die uns die Staatsbürgerschaft aberkannt, uns dann deportiert haben und uns schließlich vollständig ermorden wollten. Der Rassismus der Nazis mit seinem Kern eines extremen und radikalen Antisemitismus und Antiziganismus war das eigentliche Wesen des Dritten Reichs und dies kennzeichnet den Holocaust: ein Verbrechen an der Menschheit, ein in der Geschichte einmaliger Zivilisationsbruch.
Das 20. Jahrhundert war geprägt von zwei Weltkriegen und von zahlreichen Kriegen in nahezu allen Teilen der Welt. Jetzt, im 21. Jahrhundert, sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der nicht nur die Demokratien sich gleichsam selbst aufgeben, in der rechtsstaatliche Prinzipien systematisch abgebaut werden und in der vor allen Dingen die unterschiedlichen Lager innerhalb unserer Gesellschaft kaum noch miteinander sprechen können oder wollen.
Dies zusammengenommen ist eine unhaltbare Situation, die wir nur durch eine gemeinsame Anstrengung überwinden können. Für Roma in Europa bedeutet diese Spaltung in vielen Gesellschaften der Staaten Europas eine besondere Gefahr. Gesellschaftliche Spannungen wurden und werden immer wieder auf Minderheiten abgeleitet und derzeit besteht wieder die Gefahr von Vertreibungen und von Pogromen an Roma.
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Europas Regierungen müssen Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus ächten
Auschwitz ist das Gewissen der Wertegemeinschaft demokratischer Staaten. Wir alle dürfen nicht länger schweigen und verharmlosen, wir dürfen nicht wegschauen, wenn Rassismus sich kundtut, wenn Nationalismus sich gegen Europa, gegen unsere gemeinsamen demokratischen Werte richtet, wenn Nationalisten und rechte Organisationen unsere Demokratie und den Rechtsstaat beseitigen wollen. Jetzt sind die Regierungen Europas aufgefordert, endlich eindeutig und nachhaltig Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus zu ächten. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßt deshalb ausdrücklich die von der Bundesregierung berufene Unabhängige Kommission Antiziganismus, deren Aufgabe es ist, den Antiziganismus in Deutschland zu analysieren und Handlungsempfehlungen zur Bekämpfung des Antiziganismus zu entwickeln.
Das ist die Verpflichtung, die uns auferlegt ist von den in Auschwitz-Birkenau und in den anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern oder von den Einsatzgruppen der SS ermordeten Menschen. Ihr müssen wir uns gemeinsam in Europa stellen.
Romani Rose ist seit 1982 Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma
Seit 600 Jahren leben Sinti und Roma in Europa. Im Machtbereich der deutschen Nationalsozialisten wurden sie ausgegrenzt, zwangssterilisiert und ermordet. Nach 1945 wurde ihre Verfolgung über Jahrzehnte bestritten.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Im Einsatz für Volk und Vaterland
Viele deutsche Sinti hatten nicht nur im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich gedient, sie kämpften auch ab 1939 in der Wehrmacht. 1941 ordnete das Oberkommando "aus rassenpolitischen Gründen" die "Entlassung von Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst" an. Alfons Lampert wurde danach gemeinsam mit seiner Frau Else nach Auschwitz deportiert, wo beide starben.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Vermessen und erfasst von Rassenforschern
Die Krankenschwester Eva Justin lernte die Sprache Romanes, um das Vertrauen der Minderheit zu gewinnen. Im Gefolge des Rassenforschers Robert Ritter zog sie quer durchs Land, um Menschen zu vermessen und lückenlos als "Zigeuner" und "Zigeunermischlinge" zu registrieren - die Grundlage für den Völkermord. Man erforschte Verwandtschaftsverhältnisse und wertete die Taufregister der Kirchen aus.
Bild: Bundesarchiv
Eingesperrt und entrechtet
Wie hier in Ravensburg im Südwesten Deutschlands wurden Sinti und Roma-Familien Ende der 1930er Jahre vielerorts in Lagern am Stadtrand eingesperrt, umzäunt mit Stacheldraht, kontrolliert von Hundeführern. Niemand durfte seinen Aufenthaltsort verlassen. Haustiere wurden getötet. Die Menschen mussten Zwangsarbeit leisten. Viele wurden zwangssterilisiert.
Bild: Stadtarchiv Ravensburg
Deportation in aller Öffentlichkeit
Im Mai 1940 wurden Sinti- und Roma-Familien aus Südwestdeutschland durch die Straßen von Asperg zum Bahnhof gebracht und von dort direkt in das besetzte Polen deportiert. Im Kripo-Bericht hieß es: "Der Abtransport ging glatt vonstatten." Für die meisten Deportierten wurde es eine Fahrt in den Tod, sie starben in Arbeitslagern und jüdischen Ghettos.
Bild: Bundesarchiv
Von der Schulbank nach Auschwitz
Karl Kling auf einem Klassenfoto der Volksschule in Karlsruhe Ende der 1930er Jahre. Im Frühjahr 1943 wurde er während des Unterrichts abgeholt und ins "Zigeunerlager" nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er dem Völkermord zum Opfer fiel. Überlebende berichteten, dass sie schon vor der Deportation in den Schulen ausgegrenzt und teilweise gar nicht mehr unterrichtet wurden.
Die Verantwortung eines Bürgermeisters
Der Bürgermeister von Herbolzheim beantragte 1942 die "Wegnahme" der Sinti-Familie Spindler. 16 Familienmitglieder wurden nach Auschwitz deportiert, zwei überlebten. 60 Jahre später klärte Bürgermeister Ernst Schilling die Ereignisse auf. Die Stadt erinnert seitdem an die Ermordeten. Schilling sagt, ihm sei bewusst geworden, wie viel Verantwortung ein Bürgermeister für das Leben von Menschen habe.
Bild: DW/A. Grunau
Mord und Verfolgung quer durch Europa
Wo immer das nationalsozialistische Deutschland die Herrschaft hatte, wurde die Minderheit verfolgt. Sinti und Roma wurden in "Zigeunerlager" oder mit Juden in Ghettos wie Warschau eingeschlossen, in "Vernichtungslager" deportiert und ermordet. Man schätzt, dass bis zu 500.000 Menschen durch Erschießungen, Gas, Verhungern, Krankheiten, medizinische Experimente oder andere Gewaltakte starben.
Lüge am Eingangstor
"Ich kann arbeiten", dachte der 9-jährige Hugo Höllenreiner aus München, als er 1943 wie Tausende andere mit der Familie im Viehwaggon nach Auschwitz kam. Der Schriftzug "Arbeit macht frei" machte Hoffnung, erinnerte er sich später. Er wollte seinem Vater beim Arbeiten helfen: "Dann kommen wir schon wieder frei." Nur etwa jeder Zehnte der nach Auschwitz Deportierten überlebte.
Bild: DW/A. Grunau
Die Schwarze Wand
Namentlich bekannt sind 54 Sinti und Roma, die 1943 vor der Schwarzen Wand im Hof des Stammlagers Auschwitz zwischen Block 10 und dem Todesblock 11 von SS-Leuten hingerichtet wurden - darunter auch Jugendliche. Im Buch "Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers" schreibt Susanne Willems: "Johann Betschker ermordeten sie am 29. Juli 1943, an seinem 16. Geburtstag."
Bild: DW/A. Grunau
"Die Lagerstraße war übersät mit Toten"
"In einer Baracke, die vielleicht Platz für 200 Menschen gehabt hätte, waren oft 800 und mehr untergebracht", erinnerte sich Elisabeth Guttenberger, "die Hölle war das." 40 Baracken gab es im "Zigeunerlager" im Abschnitt BIIe, ein Block war "die Toilette für das ganze Lager". Franz Rosenbach, damals 15 und Zwangsarbeiter, erinnerte sich: "Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten."
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
"Kopf einer Leiche (12-jähriges Kind)"
SS-Arzt Josef Mengele war Lagerarzt im Abschnitt BIIe. Er und seine Kollegen quälten zahllose Häftlinge. Sie verstümmelten Kinder, infizierten sie mit Krankheiten, forschten an Zwillingspaaren und ermordeten sie mit Spritzen ins Herz. Augen, Organe und ganze Körperteile schickte Mengele nach Berlin. Im Juni 1944 versandte er den Kopf eines 12-jährigen Kindes. Er stand nie vor Gericht.
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
Asche der Ermordeten
Die Häftlinge litten an Hunger, Durst, Kälte, Krankheiten und brutaler Gewalt. Kleine Kinder und alte Menschen starben zuerst. Kranke wurden in den Gaskammern ermordet. Die Leichen wurden verbrannt. Im "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau konnte man den Rauch der Krematorien sehen und riechen. Die Asche der Toten wurde auch in solchen Teichen versenkt, wo Angehörige heute Blumen niederlegen.
Bild: DW/A. Grunau
Befreiung - zu spät für Sinti und Roma
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, traf sie dort auch auf gefangene Kinder. Für Sinti und Roma kamen die Befreier zu spät. Schon in der Nacht auf den 3. August 1944 trieb die Lagerleitung die verbliebenen Menschen aus dem "Zigeunerlager" in die Gaskammern. Zwei Kinder kamen am Morgen nach der Mordnacht weinend aus den Baracken, sie wurden "nachgeliefert".
Bild: DW/A. Grunau
Aus rassischen Gründen verfolgt
Nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern stellten alliierte oder deutsche Stellen Überlebenden Bescheinigungen über rassische Verfolgung und die KZ-Haft aus. Später mussten sich viele anhören, sie seien nur als Kriminelle verfolgt worden, Anträge auf Entschädigungen wurden abgelehnt. Hildegard Reinhardt hat in Auschwitz ihre drei kleinen Töchter verloren.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Hungerstreik gegen Kriminalisierung
Anfang der 1980er Jahre wussten sich die Vertreter der Sinti und Roma keinen Rat mehr. Mit einem Hungerstreik auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau kämpften KZ-Überlebende gegen die Kriminalisierung der Minderheit und für die Anerkennung der NS-Verfolgung. 1982 stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell fest, dass Sinti und Roma Opfer eines Völkermords waren.
Bild: picture-alliance/dpa
Ort des Gedenkens in Berlin
In der Nähe des Bundestags entstand 2012 im Berliner Tiergarten die Gedenkstätte für die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Verbände rufen besonders am Welt-Roma-Tag zum Kampf gegen Antiziganismus auf. Diese Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft erleben auch heute noch viele Mitglieder der Minderheit in Deutschland und Europa.