Mein Europa: Kara Tepe soll Flüchtlinge abschrecken
4. März 2021Es war einmal ein großzügiges Land. Mit Menschen, die den Schmerz des Anderen mitfühlen konnten. Mit Männern, die ins kalte Meer vor der Insel Lesbos tauchten, um syrische Flüchtlinge zu retten, die zu Tausenden kamen. Mit Großmüttern in den Dörfern, die ihre Arme für die Babys der Flüchtlinge öffneten. Mit Zeitungen, die auf der Titelseite das Foto des ertrunkenen dreijährigen Alan Kurdi brachten - als Metapher eine Schande der Menschheit. Es war einmal ein großzügiges Land, mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise - aber nur für kurze Zeit.
Seit langem gibt es in Griechenland keine Großzügigkeit mehr. Das Klima für die Geflüchteten ist rau geworden. Immer mehr wird das Wort "Migranten" statt "Flüchtlinge" gebraucht, fast schon als Schimpfwort. Immer öfter spricht die griechische Regierung von "Invasion", obwohl die Zahl der Neuankömmlinge in den letzten Jahren um 90 Prozent gesunken ist. Die griechische Gesellschaft ist flüchtlingsmüde, die Politik flüchtlingsfeindlich geworden - wie fast überall in Europa.
Kein Mitgefühl, keine Empörung
Es gab keine Welle des Mitgefühls, als letzte Woche eine hochschwangere Afghanin sich im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos selbst in Brand steckte. Die 26-jährige Mutter zweier Kinder wollte mit ihrer Familie nach Deutschland weiter reisen. Als sie erfuhr, dass ihr Antrag auf Ausreise abgewiesen worden war, brachte sie ihre beiden Kinder nach draußen und zündete ihr Zelt und sich selbst an. Die Flammen wurden durch andere Bewohner des Lagers und die Feuerwehr gelöscht, die Frau überlebte.
Es gab auch keine Welle der Empörung, als die Staatsanwaltschaft von Lesbos die Überlebende wegen Brandstiftung verklagte. So will es das Gesetz, teilte ein Polizeisprecher mit. Den anderen Flüchtlingen im Lager soll klar gemacht werden, dass man so etwas nicht duldet.
Schlamm, Kälte, Hitze
Die unmenschlichen Bedingungen im provisorischen Lager von Kara Tepe dagegen duldet man fast schon selbstverständlich. 6941 Menschen leben dort im Moment. Im Schlamm, wenn es regnet. Bei eisiger Kälte, wenn es schneit. Und unter der Hitze der Mittelmeersonne, wenn der Sommer nach Lesbos kommt.
Unmenschlich waren die Bedingungen in den meisten Flüchtlingslagern schon 2017, als Griechenland von Syriza, dem Bündnis der Linken, regiert wurde. Damals versuchte die Regierung, die Hölle von Moria schön zu reden; heute, unter der konservativen Nea Dimokratia-Regierung, gibt man sich nicht mal mehr Mühe, die katastrophalen Bedingungen in Kara Tepe zu verstecken.
Abschottung statt Willkommenskultur
Im Gegenteil, sie sollen bekannt werden, damit potentielle Flüchtende wissen, was auf sie wartet, wenn sie den Weg nach Europa einschlagen. Kein Schutz vor Verfolgung, Krieg, Hunger. Kein Ausweg aus der Perspektivlosigkeit. Keine Willkommenskultur, sondern Kara Tepe. Die Kriegsflüchtlinge sollen in der Türkei bleiben, die Wirtschaftsflüchtlinge bei sich zu Hause - das ist die Botschaft der Politik.
"Das Boot ist voll" hört man immer öfter. In Griechenland und in ganz Europa. Was 2015 eine Parole der extremen Rechten war, ist heute salonfähig - und Regierungspolitik. Nicht die Flüchtlinge brauchen Schutz vor Krieg und Armut, heißt es heute, sondern die Einheimischen vor Migranten-Strömen - und Europa vor der Instrumentalisierung der Flüchtlinge durch die Türkei. Mit ihrer Abschottungspolitik, so die griechische Regierung, würden nicht nur die eigenen Bürger geschützt, sondern alle Bürger Europas - und sogar die so oft heraufbeschworenen berühmten europäischen Werte.
"Wir schützen die Grenzen Europas”, sagt immer wieder stolz der griechische Migrationsminister. Europa ist längst zur Festung geworden - und Griechenland zu ihrem eifrigen Grenzschützer.
Kaki Bali ist Journalistin in Athen und arbeitet seit 1990 für die DW. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Europa und Außenpolitik. 2015 war sie europapolitische Beraterin des damaligen griechischen Regierungschefs Alexis Tsipras.