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Politik

Mein Europa: Lehren aus einem Kassenzettel

Stanislaw Strasburger
16. November 2021

Die Aktion "Kaufe, was polnisch ist" ist paradox: Die Discounterkette, die sie ins Leben gerufen hat und sie bereits seit mehr als einem Jahr mit Rabatten bewirbt, gehört einem ausländischen Handelskonzern.

Stanislaw Strasburger
DW-Gastkolumnist Stanislaw StrasburgerBild: Mathias Bothor

Wenn ich Lebensmittel kaufe, nehme ich den Kassenzettel für gewöhnlich nicht mit. Doch als ich kürzlich in Warschau bei einem Discounter war, quetschte ich das Thermopapier zwischen meine Einkäufe. Zu Hause schaute ich es mir genauer an:

Unter dem Gesamtpreis und der Zahlungsart stand ein etwas kleinerer Betrag mit dem Hinweis "Gesamtwert der Produkte 'Kaufe, was polnisch ist'". Dieser Betrag war mittig platziert und durch mehrere Sternchen und ein Logo deutlicher exponiert als der Preis für meinen gesamten Einkauf.

Filiale eines von vielen international tätigen ausländischen Discountunternehmen in Polen, hier in KostrzynBild: picture-alliance/ZB/P. Pleul

Der Hinweis überraschte mich sehr. Lange Jahre war ich freier Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln. Gütersiegel wie "Garantiert arisch" und Verweise auf "Deutsche Geschäfte" standen mir sofort vor Augen. Bahnt sich da eine Wiederholung der Geschichte an?

Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Aktion "Kaufe, was polnisch ist" als Paradox. Die Discounterkette, die sie ins Leben gerufen hat und sie bereits seit mehr als einem Jahr mit Rabatten wirbt, gehört einem ausländischen Handelskonzern. Schneidet sich ein ausländisches Unternehmen nicht potenziell ins eigene Fleisch, wenn es seine Kunden auf inländische Produkte einschwört? Und welchen Sinn macht es aus Sicht der Kunden, gezielt "polnische" Produkte bei einem "nicht-polnischen" Händler einzukaufen?

Polnische Saftorangen aus Brasilien

Auf dem Kassenzettel stand im Kleingedruckten, dass sich die Liste der teilnehmenden Produkte auf der Webseite des Unternehmens befindet. Zu meinem Erstaunen fand ich dort unter anderem einen frischgepressten Orangensaft und einen Atlantik-Lachs. Was macht Saftorangen, die laut Etikett in Brasilien wachsen, und einen Lachs aus dem Atlantik zu "polnischen" Produkten?

Orangen in Brasilien werden vor dem Export gewaschen und gewachstBild: Getty Images/Y. Chiba

Meine Recherche ergab: Das Thema ist nicht unbekannt. Landwirtschaftliche Verbände in Polen protestierten schon im vergangenen Jahr, weil etwa auch Coca-Cola-Getränke oder der Kaugummi Orbit auf der Liste der "polnischen Produkte" standen. Sie wurden inzwischen entfernt. Dennoch schreibt die Discounterkette, dass an der Aktion auch Produktmarken teilnehmen, die im Land lediglich registriert sind oder von Unternehmen stammen, die in Polen Arbeitsplätze schaffen.

Lügen und Nostalgie

Der sogenannte Wirtschaftspatriotismus ist nicht nur in Polen verbreitet. Dabei spielen international agierende Unternehmen ein zynisches Spiel: Sie labeln Produkte, die in komplexen, globalisierten Zusammenhängen entstehen, als einheimisch, um dadurch eine Art Nähe zum Kunden zu erzeugen - und letztlich mehr Profit zu machen.

Gleichzeitig wird ein falsches Bild von unserer Lebenswelt vermittelt. Das Heimische wird als ein wertvolles Gut promotet, obwohl es weder wirklich angeboten wird, noch kaum jemand von uns bereit ist, auf den globalen Angebotsreichtum zu verzichten. So werden wir KonsumentInnen zu unglücklichen Schizophrenen erzogen. Es werden Hoffnungen genährt, denen nicht entsprochen werden kann, und es wird eine Art Dauerfrust erzeugt.

Coca-Cola-Werbung im chinesischen ShanghaiBild: Imago Images/P. Koller

Nicht zuletzt füttern solche Marketingstrategien nationalistisch orientierten Populismus in der Politik. Sie bereiten einen fruchtbaren Boden für all diejenigen PolitikerInnen, die aus dem nostalgischen Wunsch nach Einheimischem Kapital schlagen wollen. Dabei wissen diese PolitikerInnen genau so gut wie die globalen UnternehmerInnen: Es ist ein leeres Versprechen.  

In der Marketingpsychologie wird die sogenannte unternehmerische Sozialverantwortung vielfach thematisiert. Die zentrale Frage bleibt dabei, wie man diese Verantwortung überhaupt mit profitorientiertem Handeln vereinbaren kann. Diese Frage wird von einer weiteren Herausforderung begleitet: In unserer globalisierten Welt werden die wirtschaftlichen Strukturen, die Entscheidungsfindungen und die Handels- und Produktionsabläufe immer komplexer. Sie sind anfällig für Paradoxe, sobald man versucht, sie sprachlich zu erfassen.

Storytelling im Marketing

Paradoxe helfen aber nicht gerade beim Erzielen höherer Absätze. Es gibt Forschungen, die gerade Menschen in den globalwestlichen Kulturen eine besonders niedrige Toleranz für Ambiguität bescheinigen. Damit also das Geschäft läuft, werden Illusionen einer heimischen Welt geschaffen. Nicht zufällig haben MarketingstrategInnen das sogenannte Storytelling für sich entdeckt. So findet man beeindruckende Geschichten und Protagonisten zunehmend eben nicht in Romanen, sondern in ... Werbetexten.

Ich persönlich glaube leider nicht daran, dass man als Individuum viel dagegen tun kann. Ich wünsche mir aber, dass unsere Sozialisierungs- und Bildungscurricula uns besser darauf vorbereiten, mit Ambiguität in unserer Welt umzugehen. Dass wir einheimische Erzählungen zu schätzen wissen, aber gleichzeitig keine gefährlichen Nostalgien dort entwickeln, wo wir als Einzelpersonen und Gesellschaften global handeln.

Solche Curricula könnten uns nicht nur dabei helfen, unser Konsumverhalten zu gestalten, sondern auch zum Beispiel mit der Komplexität der COVID-19-Krise oder der globalen Mobilität umzugehen. Und vielleicht auch dabei, die Gefahr der Wiederholung der Geschichte abzuwenden.

Stanisław (Stan) Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Seine Schwerpunkte sind Erinnerung und Mobilität, er sucht nach der EUtopie und glaubt an Achtsamkeit. Sein aktueller Roman "Der Geschichtenhändler" erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins "Humanismo Solidario".

Die Recherche zu diesem Text konnte dank einer Förderung des Berliner Senats finanziert werden.

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"