1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Macrons bittere Überraschung

Ivan Krastev
20. April 2018

Die Botschaft der Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Straßburg hat die Sprengkraft, die Krise auf dem Balkan zu verschärfen, meint Ivan Krastev. Das schwächt auch die Position der EU in der Region.

Ivan Krastev
Bild: privat

Emmanuel Macrons Rede im Europäischen Parlament war der Startschuss für den Wahlkampf im Vorfeld der Europa-Wahlen von 2019. Nachdem wir die schöne Rede gehört haben, wissen wir allerdings immer noch nicht, ob der französische Präsident in Europa dasselbe versuchen wird, wie in Frankreich vor nur einem Jahr: die vorhandenen politischen Parteien zu zerstören und eine neue pro-europäische Plattform zu schaffen, deren Kern die Ablehnung des Status Quo ist. Wird er es riskieren, die Parteien der konservativen Mitte - die in einem Großteil Europas regieren - so sehr herauszufordern, dass es zu bösem Blut zwischen ihm und Bundeskanzlerin Angela Merkel kommt? Und wie wird er mit den wachsenden Spannungen zwischen Ost und West in Europa umgehen? Wie wird er neue demokratische Energie in das europäische Projekt bringen - besonders in jenen Gesellschaften, die seine Reden nur in übersetzten Versionen lesen?         

Seit Jahrhunderten gibt es in Frankreich eine enge Verbindung zwischen Politik und Dichtung - und Emmanuel Macron bleibt dieser Melange treu. Auch sein Talent fürs Dramatische stellte er unter Beweis, als er über Europas neuen "Bürgerkrieg" und die Gefahren des Nationalismus sprach, als er erklärte, er wolle nicht zu einer "Generation von Schlafwandlern" gehören. Er wurde unbequem für seine politischen Gegner auf der rechten Seite des politischen Spektrums in Europa, indem er sich als Schützer der europäischen Werte positionierte - nicht nur gegen autoritäre Herrscher außerhalb EU (sprich: Russland, China, Türkei), sondern auch gegen "illiberale" zu Hause (sprich: Ungarn, Polen). Er punktete auch mit politischem Pragmatismus, als er sich vom klassischen föderalistischen Narrativ entfernte, das die meisten französischen Progressiven befürworten, und nicht für die "Vereinigten Staaten von Europa" argumentierte, sondern für eine gemeinsame europäische Digital-Steuer, die Brüssel stärken würde.   

Ein vorsichtiger Visionär

Der französische Präsident hat sich für die Rolle des vorsichtigen Visionärs entschieden. Er deutete die von ihm vorgezogenen politischen Optionen an, statt sie klar auszusprechen. Rhetorisch war seine Rede kraftvoll, doch besonders auffällig waren die Dinge, über die Macron nicht gesprochen hat. Der französische Präsident blieb verdächtig still beim Thema der Reformen der Eurozone, die seine hoch gelobte Rede an der Sorbonne im vergangenen Jahr geprägt hatte. Sein Schweigen ist ein klares Signal für die Schwierigkeiten in den deutsch-französischen Verhandlungen über die Europäische Währungsunion. Er sprach auch kaum über Europas Haltung zum Freihandel und war politisch ungenau bei den Themen Migration oder Europas Beziehungen zu den USA.

Macron punktete in Straßburg auch mit politischem PragmatismusBild: Reuters/V. Kessler

General Charles de Gaulle bemerkte einst: "Ein echter Anführer behält immer eine Überraschung im Ärmel, die andere nicht begreifen können, und die die Öffentlichkeit in einen Zustand der Begeisterung und Atemlosigkeit versetzt." Die Überraschung, die Macron im Ärmel hatte, war seine Botschaft zur Zukunft der EU-Erweiterung. "Ich will nicht, dass sich der Balkan der Türkei oder Russland zuwendet", sagte der französische Präsident in Straßburg. Doch er wolle auch kein Europa, das schon mit 28 und bald 27 Mitgliedern (ohne die Briten) schwierig funktioniert, und dann entscheiden würde, "wir könnten weiterhin im Galopptempo morgen 30 oder 32 sein, mit denselben Regeln". 

Macron richtet sich an die Wählerschaft in Westeuropa 

Da ist etwas dran. Die Mehrheit der Europäer werden ihm Recht geben, dass es keinen Sinn hat, über eine Erweiterung zu sprechen, wenn man sich nicht entschieden hat, was die Union überhaupt sein sollte, die man erweitern will. Zurzeit gibt es definitiv keine Begeisterung für irgendeine Form der EU-Erweiterung - egal ob es sich dabei um den Balkan, die Türkei oder die Ukraine handelt. Wenn man europäische Wähler nach der gewünschten zukünftigen Größe der EU fragt, werden viele eine Verkleinerung vorziehen - nicht eine Erweiterung.

Doch die konkrete Auswirkung von Macrons Botschaft ist ein politisches Desaster. Jean-Claude Junckers Bemerkung, die einzige Alternative zur EU-Integration des Balkans sei ein Krieg in der Region, ist zwar ein Paradebeispiel für Banalität als letzte Rettung. Doch in Wahrheit hat Macrons Botschaft die Zündkraft, die Lage in der Region noch weiter zu verschlechtern. Bulgarien, das zurzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, hat alle Gründe, um Macron vorzuwerfen, dass wegen ihm der sorgfältig vorbereitete Westbalkan-Gipfel im Mai wie ein Witz wirkt. Die Europäische Kommission hat alle Gründe, Macrons Bemerkung als Messerstich in den Rücken zu interpretieren. Pro-europäische Reformer in der Balkan-Region haben alle Gründe, Macron vorzuwerfen, dass er ihre Position untergräbt.     

"Konstruktive Ambiguität" war lange die von Brüssel vorgezogene Strategie im Umgang mit dem Balkan. Wenn es um die EU-Mitgliedschaft der West-Balkan-Staaten geht, sagen EU-Politiker gerne, die einzige Frage sei "wann". In Wirklichkeit glaubt niemand - weder in Brüssel noch in Belgrad - dass 2025 irgendeines dieser Länder EU-Mitglied sein wird. Doch während "die Türe offen halten" bis jetzt der Name des Balkan-Spiels der EU war, hat Macron beschlossen, die Türe zu schließen - zumindest für den Moment. Dafür kann man ihm keine Vorwürfe machen. Was man ihm aber vorwerfen sollte: Durch ein "Einfrieren" der Erweiterung ohne eine alternative Strategie hat er zu einer Vertiefung der Krise auf dem Balkan beigetragen und die Position der EU in der Region geschwächt. Es wurde auch klar: Wenn Macron "die Europäer" anspricht, ist die Wählerschaft, an die er sich tatsächlich richtet, auf Westeuropäer beschränkt.   

Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia, Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und Richard von Weizsäcker Fellow der Bosch Academy in Berlin. Krastev gehörte zum Gründerkreis der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. Seit 2015 schreibt er regelmäßig Analysen für die internationale Ausgabe der New York Times. Sein Buch "Europadämmerung" (After Europe. Penn University Press, 2017) erschien 2017 bei Suhrkamp.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen