1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Mein Europa: Mitfeiern - aber auch mitdenken

Jannis Papadimitriou
27. März 2021

Der moderne griechische Staat wird 200 Jahre alt. Grund genug zu feiern, aber auch zu reflektieren. Und neue Ziele auszurufen.

Griechenland 200 Jahre Unabhängigkeit | Kampfjets über Athen
Griechenland - 200 Jahre Unabhängigkeit: Kampfjets über AthenBild: Alkis KonstantinidisREUTERS

"Bist du eigentlich stolz, ein Grieche zu sein?", werde ich gelegentlich gefragt - vor allem dann, wenn meine journalistische Berichterstattung zu Griechenland besonders kritisch ausfällt. Die Antwort ist nicht einfach. Stolz bin ich in der Regel auf das, was ich selbst geleistet habe. Zum Beispiel auf die eine oder andere journalistische Arbeit. Oder darauf, dass ich mein Jurastudium trotz erbärmlicher Leistungen in den Anfangssemestern doch noch abschließen konnte. Aber dass ich Grieche bin - das haben andere für mich erledigt. Sollte ich stolz darauf sein?

Und doch erfüllt mich dieser 25. März mit Stolz.

Griechenland feiert 200 Jahre Unabhängigkeit. Voraussetzung dafür war ein militärischer Sieg gegen das übermächtige Osmanische Reich. Der Überlieferung nach begann der Freiheitskampf am 25. März 1821. Bei aller Tapferkeit der schlecht ausgerüsteten und oft rivalisierenden Freiheitskämpfer: Ohne die diplomatische und gelegentlich auch militärische Unterstützung Frankreichs, Großbritanniens und Russlands wäre der Sieg nicht möglich gewesen.

Abschied von der Nationalromantik

Derartige Erkenntnisse waren lange verpönt in Hellas. Viel attraktiver erschien der Gründungsmythos von den mutigen Rebellen, die im Alleingang und mit dem Segen der orthodoxen Kirche die Besatzer in die Flucht trieben. Ihre nächste Heldentat sollte die Megali Idea sein, die "Große Idee" - nämlich der Versuch, das altehrwürdige Byzantinische Reich wiederherzustellen. Oder zumindest dessen Hauptstadt Konstantinopel/Istanbul dem modernen griechischen Staat einzuverleiben.Anscheinend übt die Vergangenheit eine besondere Faszination aus - vor allem dann, wenn die Gegenwart wenig zu bieten hat. Kaum in die Freiheit entlassen, erhoffen sich die Griechen ein neues Byzanz. Wenig später kämpfen die Bulgaren für ein Großbulgarien, in den neunziger Jahren wird auf dem Balkan ein Großserbien propagiert. Und manche Türken träumen derzeit von der Auferstehung des Osmanischen Reichs.

DW-Redakteur Jannis Papadimitriou

Seien wir ehrlich: So viel Platz haben wir in Europa gar nicht! Und außerdem: Es ist wichtig, die eigene Geschichte kritisch zu hinterfragen. Vermutlich gehöre ich zu der ersten Generation griechischer Schüler, die im Unterricht relativ offen über Fehler, Träumereien oder auch Massaker im Kampf gegen die Türken gesprochen haben. Etwa über die Schlacht von Tripolis im September 1821: Damals eroberten die Aufständischen nach langer Belagerung die größte Stadt auf dem Peloponnes und töteten alle türkischen Bewohner, auch Frauen und Kinder. Schulbücher haben lange dazu geschwiegen.   

Ein hoher Preis an der Front

Für den Abschied von der "Großen Idee" mussten die Hellenen einen hohen Preis zahlen. Zunächst führte ein Angriffskrieg gegen die Osmanen 1897 zur militärischen Niederlage Griechenlands, das zudem hohe Reparationszahlungen aufgebürdet bekam. Dann kam der Krieg von 1919-1922, der aus griechischer Sicht furios begann, aber mit einer schweren Niederlage und der Vertreibung der gesamten griechischen Bevölkerung aus der Hafenstadt Smyrna (Izmir) endete.

Mit dem Vertrag von Lausanne 1923 hat die Geschichte ihr hoffentlich endgültiges Urteil gesprochen - und dabei allen Seiten viel abverlangt: Bei einem Bevölkerungsaustausch mussten Millionen Griechen und Türken ihre Häuser verlassen. In Kleinasien war eine 3000jährige griechische Präsenz endgültig zu Ende. Dafür mussten die Türken ihre Ambitionen in der Ägäis aufgeben.

Ewiger Kampf gegen den Feudalismus

Den Aufstand von 1821 verstehen viele Griechen auch als soziale Revolution. Nicht zuletzt ging es darum, die Missstände zu beseitigen, die mit dem "kranken Mann am Bosporus" einhergingen und letzten Endes vermutlich zu seinem Untergang führten: Autoritäre Strukturen, Willkür gegenüber Andersdenkenden, Feudalismus, Verbindung von Staat und Religion. Die fast 400jährige osmanische Herrschaft hat die Griechen von der Epoche der Aufklärung im Westen Europas abgekoppelt und den Aufstieg des Bürgertums verzögert - wenn nicht sogar ganz verhindert.

Heute scheint Griechenland stärker als je zuvor in der westlichen Welt verankert. Doch der Kampf für einen modernen Staat mit selbstbewussten Bürgern und starken Institutionen ist noch nicht ausgefochten. Politik und Wirtschaft werden immer noch durch feudale Strukturen gelähmt. Großfamilien und Polit-Dynastien haben nach wie vor ein Machtwort zu sprechen. Es bleibt noch viel zu tun. Was mich betrifft: An diesem 25. März habe ich die griechische Fahne geschwenkt und dabei auch ein bisschen geträumt. Nicht von Istanbul als neue Hauptstadt. Sondern von einer aufgeklärten Republik, die ihren Bürgern mehr bietet als abverlangt. Von einem Staat, in dem Leistung wichtiger ist als Herkunft. Von einer gemeinsamen europäischen Zukunft, die wir mitentscheiden. Wenn das keine "Große Idee" ist, die uns alle mit Stolz erfüllt.