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Mein Europa: Ohne Kunst und Kultur wird's still

Carmen-Francesca Banciu
20. November 2020

Wenn Buchhandlungen, Verlage und Kulturstätten schließen, werden wir alle einsamer, meint die Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu. Die digitale Welt kann unser Bedürfnis nach Heimat nicht ersetzen.

Deutscher Buchpreis 2018 Carmen-Francesca Banciu
Bild: Marijuana Gheorghiu

"Ohne Kunst und Kultur wird's still" steht auf einem Banner im Netz, in den Medien und im analogen Gesellschaftsleben. Bekannte Künstler und Kulturschaffende machten damit auf ihre existentielle Bedrohung durch die Folgen der Pandemie aufmerksam. In den Sozialen Medien hefteten Menschen, die Kunst und Kultur als unentbehrliche Nahrung für Geist und Seele verstehen, das Banner an ihr Profil.

Bereits vor Corona gehörten Musiker, Schriftsteller, bildende Künstler, Journalisten und andere Freischaffende zum Prekariat. Selbst Verleger von kleineren unabhängigen Verlagen, die es wagen, unbekannte Autoren, Lyrik oder experimentelle Literatur zu veröffentlichen und den großen Verlagen das Risiko der Erstveröffentlichung abnehmen, hatten bereits vor dem Ausbruch der Pandemie die Grenze der Selbstausbeutung erreicht. Weit davon entfernt, ihren Autoren Vorschüsse bezahlen zu können, sind sie selbst ständig vom Konkurs bedroht. Um ihre künstlerische Existenz zu bewahren, geben Schriftsteller und Künstler immer öfter ihre Werke her - ohne finanzielle Gegenleistung.

Anderseits hat sich auch der Trend entwickelt, Kunst gratis zu genießen. Es scheint so, als ob die Allgemeinheit Zugang zu Filmen, Musik, Lesungen, Theater, Konzerten, Büchern und Zeitschriften im Internet haben möchte, ohne etwas zu bezahlen. So als sei sie bereit, ihre Messlatte in Bezug auf die Qualität der Unterhaltung zu senken. Kunst und Kultur zählen für viele als Unterhaltung.

Die künstlerische Arbeit als Liebhaberei

Dabei weiß inzwischen jeder, dass der Mensch nicht von Brot alleine leben kann und ohne geistige Nahrung verkümmert. Der Corona-Lockdown hat uns das vor Augen geführt. Wir halten es alleine mit uns selbst nicht lange aus. Wir brauchen Anregung. Unterhaltung. Ablenkung.

Es wird immer stiller um uns seit dem Anfang der Pandemie. Und die Hilferufe aus der Kunst- und Kulturszene der ganzen Welt werden immer lauter. Immer wieder machen Zeitungen wie The Guardian aufmerksam auf die immanente Gefahr vor dem Verlust geistiger Heimaten.

"Wir brauchen Hilfe. Dies ist der Post, den wir nie schreiben wollten", schreibt Nancy Bass Wyden, die Besitzerin des Strand Book Shop an der Ecke 12th Street und Broadway, jener ikonenhaften New Yorker Institution für gebrauchte Bücher, über 5100 Quadratmeter auf drei Etagen erstreckt, mit "18 Miles of books", etwa 2,5 Millionen Büchern. Die Institution, die am besten den New Yorker Flair verkörpert, und deswegen in Filmen gezeigt, von Rockstars besungen, und in literarischen Werke gepriesen wurde. In der Patti Smith und Tom Verlaine mal gearbeitet haben.

El Ateneo in Buenos Aires, früher ein Theater, heute ein Café, von dessen Bühne man auf ein Meer von Büchern schaut, ist keine Buchhandlung, sondern ein Universum. Sein Verschwinden wäre ein dramatischer Verlust.

Dussmann in Berlin, Dom Knigi in Sankt Petersburg, Dominicanen in Maastricht, Libreria Aqua Alta in Venedig, Atlantic Books auf Santorini, Livraria Lello & Irmao in Porto, Desperate Literatur in Madrid, Carturesti in Bukarest und viele andere mehr kämpfen mit Verlusten von über 80 Prozent seit dem Corona-Ausbruch.

Die legendäre Buchhandlung Shakespeare and Company in Paris Bild: picture-alliance/Arco Images/K. Loos

Hunderte solcher Orte auf der ganzen Welt, die unseren Geist erweitern, sind in Gefahr, zu verschwinden. Einer von ihnen ist die legendäre Buchhandlung Shakespeare & Co. in Paris. Gegründet 1919 von der Amerikanerin Sylvia Beach wurde sie, bald, zusammen mit "La Maison des Amis des Livres", das Sylvias Freundin Adrienne Monnier gehörte, zum Nährboden der Entwicklung einer der lebendigsten, spannendsten und progressivsten Kultur- und Literaturszenen. Sie hat sogar für die Erstveröffentlichung von Joyces Mammut-Werk Ulysses gesorgt.

Autoren, Künstler, Musiker, die den europäischen Geist und auch die Weltliteratur und Kunst des letzten Jahrhunderts und der Gegenwart geprägt haben, verkehrten in diesen Buchhandlungen, die sich damals gegenüber befanden: D.H. Lawrence, Ernest Hemingway, Ezra Pound, T.S. Eliot, Scott und Zelda Fitzgerald, Valéry Larbeau, Thornton Wilder, Gertrude Stein, Berenice Abbot, Gisèle Freund, Man Ray, Picasso, Aleister Crowley, James Joyce, Djuna Barnes, André Gide...

Während des Krieges schloss Shakespeare & Co. Aber die Legende blieb am Leben.

Shakespeare and Company: Geist der Moderne und Postmoderne

Die Tradition und den Namen dieser Buchhandlung übernahm der Amerikaner George Whitman, der auch seine Tochter Sylvia nannte. Nach seinem Tod übernahm Sylvia die Buchhandlung und führt bis heute ihre Tradition weiter. Sie wurde zum Treffpunkt der Beat-Generation: Ferlinghetti, Alan Ginsberg, William S. Burroughs, Henry Miller. Die Buchhandlung taucht in Filmen wie Before Sunset oder Midnight in Paris auf. Wer die Buchhandlung jemals betreten hat oder gar dort mal kurz gewohnt hat, zwischen den Büchern, gegen Putzen und andere Hilfsarbeiten, wird davon nicht unberührt bleiben. Und sie niemals vergessen.

Ihre Regale, ihre Räume, ihre Atmosphäre sind imprägniert mit dem Reichtum unzähliger geistiger Größen dieser Welt. Wie keine andere Buchhandlung verkörpert dieser Ort den Geist der Moderne und Postmoderne. Das Verschwinden dieses säkulären Tempels würde uns ins Mark treffen. 

Ohne Kunst und Kultur wird's still.

Es wird immer stiller um uns, wenn Bibliotheken schließen müssen. Wenn Buchhandlungen Pleite gehen.

Wenn Universitäten nur noch auf Sparflamme leben.

Wenn Verlage keine Bücher mehr verlegen.

Und erst recht, wenn Autoren ihre Bücher nicht mehr schreiben können.

Wenn Gesang und Musikklänge verschwinden werden.

Und jeder von uns alleine mit sich selbst bleibt.

Dann wird es still in der Welt. Und in uns dunkel.

Das digitale Leben, eine Hilfe in Not, wird unser Bedürfnis nach Heimat nicht ersetzen können. Unseren Durst nach Geborgenheit nicht stillen.

 

Carmen-Francesca Banciu ist in Rumänien geboren. Seit November 1990 lebt sie als freie Autorin in Berlin, schreibt für Rundfunk und Zeitungen und leitet Seminare für Kreativität und kreatives Schreiben. Seit 1996 schreibt sie in deutscher Sprache. Ihr Roman "Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!" wurde für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert. Demnächst erscheint ihr Roman "Vaterflucht" in englischer Sprache.

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