Ostdeutsche, Osteuropäer und die Besserwessis
7. September 2018Wer in Sachsen derzeit (west)deutsche Medienberichte über seine Heimat sieht, hört oder liest, der dürfte sich so fühlen wie wir in Ungarn, wenn deutsche Medien über unser Land schreiben: Man lernt darin mehr über die geistige Befindlichkeit der Verfasser, als über das Land. "Ostdeutsche" ist zu einem ähnlich verächtlichen Begriff geworden wie "Osteuropäer". Die im Osten, so ist in oder zumindest zwischen den Zeilen zu lesen, sind anders. Und anders, das ist schlecht, denn man muss so sein wie Wessis.
Die im Osten sind geistig-moralisch zurückgeblieben, dumm oder böse oder beides. Obrigkeitshörig, demokratiefremd, rassistisch, ausländerfeindlich. "Ostdeutsche" und "Osteuropäer" müssen noch viel lernen bis sie so erleuchtet sind wie die Verfasser der jeweiligen Artikel. Und wahrscheinlich sind sie deswegen so "hasserfüllt" (also böse), weil sie ihre "Vergangenheitsbewältigung" vernachlässigt haben und geistig irgendwie, irgendwo noch in der kommunistischen oder gar faschistischen Diktatur zuhause sind. Das netteste, was man über sie sagt und schreibt ist, dass sie "Ängste" haben, die man "ernst nehmen" müsse. Aber letztlich haben sie nur deswegen Angst, weil sie zu dumm sind, um zu erkennen, dass es in Wahrheit gar kein Problem gibt außer vielleicht ihre eigenen rassistischen Reflexe. Ein bisschen Umerziehung durch "Dialog" müsste da doch helfen.
Der Osten - mehr als nur ein bisschen anders
Es ist kein neues Narrativ, das Ossi-Bashing. Neu ist eine ähnliche Debatte bei uns in Ungarn: Warum sind die Westler eigentlich so ideologisch verblendet, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen können? Sind sie Opfer einer umfassenden Gehirnwäsche, oder warum schreiben sie so einförmig so realitätsferne Dinge? Kurzum - dass wir im Osten anders ticken als die im Westen, das ist inzwischen auch bei uns ein Thema. Aber sind es wir, die EU-Ossis, die daneben liegen, oder sind es die Wessis? Wie anders sind wir und warum?
Ja, die Menschen im früheren Ostblock sind anders aufgewachsen als die im Westen. Sie wussten immer, dass ihre Medien und Politiker lügen, weil sie in einer Diktatur lebten. Ihre Reflexe sind deswegen instinktiv medienskeptisch und regierungskritisch. Es ist das Gegenteil von obrigkeitshörig - man unterstellt der Regierung immer, dass sie die Wahrheit verschleiert, und dass von ihr Gefahr ausgeht. Man nimmt es frustriert hin, weil man keinen Ärger will. Das geht so lange gut, wie technisch passabel regiert wird. Wenn aber inkompetent regiert wird - so wie bei der unkontrollierten Einreise von mehreren hunderttausend Menschen aus fremden Ländern und Kulturkreisen, oder wenn wie in der Spätphase des Kommunismus die Wirtschaft kollabiert - dann kann der Unmut so groß werden, dass es zur Explosion kommt.
Die Welt durch das eigene Umfeld verstehen
Da man im Osten immer davon ausging, dass man von Politik und Medien nicht korrekt informiert wird, informierte man sich anders. Nachbarn, Freunde, Freunde von Freunden - im Osten wird viel mehr als im Westen untereinander darüber geredet was mit den Menschen geschieht die man kennt, und zieht daraus Rückschlüsse auf die Realität. Wir verstehen die Welt darüber, was in unserem Umfeld passiert, und akzeptieren kein interpretierendes Narrativ von "denen da oben".
Wenn jemandes Kinder auf dem Schulhof von Migranten drangsaliert, Frauen sexuell belästigt werden, ohne dass daraus ein aktenkundiges Verbrechen wird - bei uns im "Osten" ist es sofort eine weit und schnell verbreitete Nachricht, auch wenn es in den Medien gar nicht auftaucht. Und wir haben darüber meistens eine sehr klare Meinung, nämlich dass nicht wir das Problem sind, sondern die jeweiligen Migranten - und jene Politiker, die sie ins Land ließen. Das stimmt auch dann, wenn die meisten Migranten ganz nette, normale Menschen sind.
Die Wessis und ihre Ideale
Die Westler hingegen sehen die Welt im Lichte von Idealen, die ihnen von Lehrern, Politikern und Medien beigebracht wurden. Da geht es nicht um die Realität, sondern als späte Folge der 68er Bewegung, die die Ideenwelt im Westen nachhaltig prägte - um "Werte". Alle Menschen sind gleich. Vorbehalte gegen Menschen aus anderen Ländern sind Rassismus. Religion ist ein Problem. Stolz und Liebe für das eigene Land ist Nationalismus.
Das sehen wir im Osten anders: Die Menschen sind nicht gleich, und die Völker der Welt sind nicht "Brüder". Politik ist nie "solidarisch", sondern kämpft um Macht und Interessen. Diese Phrasen kennen wir aus den Parolen der kommunistischen Diktatur. Wir wissen, dass sie hohl sind. Die Menschen im Osten interessieren sich für die Realität, die im Westen wollen die Realität an ihre "Werte" anpassen und erkennen sie deswegen oft gar nicht.
Insofern sieht man die Ostdeutschen und die Ereignisse in Chemnitz bei uns so: Die Ossis sind normal geblieben, sie sind wie wir. Deswegen haben sie auf die Ermordung eines Bürgers so reagiert wie man bei uns auch reagiert hätte - mit Wut und Unverständnis über die Politik.
Boris Kálnoky, Jahrgang 1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent für die "Welt" und andere deutschsprachige Medien. Er ist Autor des Buches "Ahnenland" (Droemer 2011), in dem er sich auf die Spuren seiner Vorfahren begibt - unter anderen der k.u.k. Außenminister Gustav Kálnoky.