Als Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, habe ich mich gefragt, wie der 1980 verstorbene Präsident des zerfallenen Jugoslawiens, Josip Broz Tito, wohl den diesjährigen Tag der Befreiung feiern würde, wenn er noch am Leben wäre. Und als die ersten Bilder aus den umkämpften ukrainischen Städten bei uns in Serbien ankamen, habe ich sie mit der Situation hier nach den Bombardierungen durch die NATO während des Kosovokrieges 1999 verglichen.
Einiges ist tatsächlich vergleichbar: Menschen sterben, Krankenhäuser und Fernsehsender, Brücken und Erdölraffinerien werden von Kampflugzeugen und Raketen zerstört. Aber letztlich erinnert mich das, was seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine geschieht, an die zerstörten deutschen Städte im Jahr 1945. Damals war ich in Halberstadt, Magdeburg, Hamburg, Frankfurt, bin auf den Turm des Kölner Doms geklettert und habe mir ein Bild über den grauenhaften Zustand der Stadt gemacht.
Auch die Flucht von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern erinnert mich an die Flüchtlinge und Vertriebenen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Freilich bitte ich, Syrien nicht zu vergessen, wo schon elf Jahre lang Zustände herrschen wie in der Ukraine seit elf Wochen. Und auch die Menschen nicht, die von dort fliehen und im Mittelmeer ersaufen, statt Zuflucht im sicheren Europa zu finden. Und vergessen wir auch nicht die Millionen und Abermillionen von Kindern, die geboren werden, um einige Monate lang zu leiden, und dann vor Hunger zu sterben...
Gemessen an ihnen haben wir in Serbien nur die Sorge, was Milch und Sonnenblumenöl in Zukunft kosten werden. Und ob wir kommenden Winter unsere Häuser und Wohnungen heizen werden können. Serbien bezieht sein Gas aus Russland - derzeit zu einem verbilligten Preis, der kaum ein Fünftel des Marktpreises beträgt - aber der Vertrag endet am 31. Mai 2022. Dann muss neu mit dem russischen staatlichen Gaskonzern Gazprom verhandelt werden. Dem gehört mehrheitlich auch die einzige Erdölraffinerie in Serbien, genauso wie diverse Chemie-Fabriken.
Ein altes Anlehnungsbedürfnis
Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Serbien und Russland - oder besser gesagt: Serbiens Anlehnungsbedürfnis an Russland - besteht seit Jahrhunderten. Das allein wäre kein Problem, hätte das Regime von Präsident Aleksandar Vucic nicht jahrzehntelang einen Kult um den russischen Präsidenten Wladimir Putin betrieben, der jetzt dazu führt, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Serbiens weiter Fans des starken Manns in Moskau sind - und dessen Angriff auf die Ukraine für berechtigt halten.
Ganze 19 Mal hat Vucic Putin in den vergangenen Jahren getroffen. Das liebe Geld aber kam und kommt aus dem Westen, vor allem aus der Europäischen Union. Bisher gelang es Vucic, ein "Sowohl-als-auch-Spiel" zwischen Brüssel und Moskau zu treiben. Jetzt muss sich Serbien neu orientieren - und es hat schon damit begonnen.
Vucics Kehrtwende
Die Vucic ergebenen Medien haben begonnen, die außenpolitische Kehrtwende ihres Präsidenten vorzubereiten: Nachdem Putin die Unabhängigkeitserklärungen der "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk mit der Anerkennung Kosovos - aus serbischer Sicht eine Provinz Serbiens - als souveränen Staat durch westliche Staaten verglichen hatte, warfen sie ihm vor, damit die Trennung der "Wiege des Serbentums" vom Mutterland zu unterstützen.
Ich gehe davon aus, dass Serbien Sanktionen gegen Russland beschließen wird. Diese müssen der serbischen Bevölkerung nach Jahren der pro-russischen Propaganda allerdings so verkauft werden, als geschehe Serbiens außenpolitische Zeitenwende unter unüberwindbaren Druck und schweren Herzens - weil Putin die Serben verraten hat. Falls sich Serbien den Sanktionen gegen Russland anschließt, werden die Russinnen und Russen das kaum spüren - aber die serbischen Obstbauern werden auf ihrer diesjährigen Ernte, die sonst dorthin verkauft wurde, sitzenbleiben.
Druck in der Kosovo-Frage
Auch das Verhalten des Westens gegenüber Serbien, und vor allem der EU, deren Beitrittskandidat das Land ist, wird sich nicht im Sinne Vucics ändern. Einen Vorgeschmack darauf erhielt Serbiens Präsident bei seinem Besuch in Berlin am 4. Mai 2022, wo Kosovos Premierminister Albin Kurti zeitgleich mit denselben Ehren empfangen wurde, wie er selbst. Eine klare Botschaft: In den Augen der Bundesrepublik sind Kosovo und Serbien gleichberechtigte Staaten.
Als wäre das nicht genug, wurden Kurti und Vucic, die einander eigentlich nicht begegnen wollten, im Rahmen eines informellen Abendessens zu einem Gespräch mit dem Balkan-Beauftragten der EU, Miroslav Lajcak, genötigt. Man saß an einen hübsch gedeckten runden Tisch und starrte freundlich in die Kameras. Herausgekommen ist dabei nichts. Die Beauftragten aus Serbiens Hauptstadt Belgrad und Kosovos Kapitale Pristina sollen am 13. Mai in Brüssel weiterverhandeln. Die Geste aber wird beiden Politikern im Gedächtnis bleiben.
Abkehr vom Separatismus der bosnischen Serben
Bundeskanzler Olaf Scholz hat seine Forderungen an Kosovo und Serbien in Berlin in nette Worte gefasst: Einerseits sollen beide Staaten beim Thema Ukraine dieselbe Botschaft an Russland senden; zudem erwartet der Regierungschef Deutschlands von Serbien eine klare Abkehr vom Separatismus der bosnischen Serben unter Milorad Dodik, sowie die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in Serbien selbst.
Vor allem aber soll Belgrad Kosovo endlich formal als unabhängig anerkennen und die Aufnahme des jüngsten Staates Europas in die UNO und andere internationale Organisationen nicht weiter behindern. Damit käme Europa dem Abschluss seiner friedlichen Vereinigung wenigstens einen kleinen Schritt näher - ein wichtiges Signal in einem historischen Moment, in dem 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder ein Krieg auf dem alten Kontinent tobt.
Und was würde Tito in dieser Situation am diesjährigen Jahrestag der Befreiung von der Nazi-Besatzung tun? Ich bin mir sicher: Russlands Invasion in der Ukraine verurteilen, wie er es 1956 mit der sowjetischen Invasion in Ungarn und 1968 mit der in der Tschechoslowakei getan hat. Und Sanktionen gegen das Regime in Moskau verhängen.
Ivan Ivanji, geboren 1929, ist Schriftsteller, Übersetzer und Journalist. 1944 wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft ins KZ Auschwitz und dann nach Buchenwald deportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Architektur und Germanistik. Er arbeitete auch als Lehrer, Theaterintendant und Diplomat und war Dolmetscher des jugoslawischen Präsidenten Tito.