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PolitikEuropa

Mein Europa: "Stolperdrähte" für Frieden auf dem Westbalkan

6. Oktober 2023

Der jüngste paramilitärische Zwischenfall in Kosovo erinnert an Szenarien, mit denen Serbien 1991 die Kriege im ehemaligen Jugoslawien begann. Der Westen muss einen neuen Flächenbrand auf dem Balkan verhindern.

Ein Panzer an einer Straße, davor ein Soldat mit Schutzweste und Helm, im Hintergrund rechts ein weiterer Soldat und Autos
Soldaten der internationalen Mission Kosovo Force (KFOR) in Zvecan in NordkosovoBild: Erkin Keci/AA/picture alliance

Der jüngste Angriff einer serbischen paramilitärischen Einheit in Kosovo auf albanische Polizisten ist das vorerst letzte Beispiel in einer Kette von Gewaltakten der vergangenen Jahre, deren Ziel es ist, den jüngsten Staat Europas zu destabilisieren. Es folgten Belgrads zweifelhafte Dementis, an dieser Aktion beteiligt gewesen zu sein, ja selbst Kenntnis davon gehabt zu haben. Doch kurz danach wurden massive gepanzerte serbische Truppenverbände an die Grenzen Kosovos verlegt, die sogar US-Außenminister Antony Blinken veranlassten, beim serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic zu intervenieren.

Dieser Vorfall hat hoffentlich die letzten Verfechter der Appeasement-Politik zum Umdenken bewegt. Die bis vor Kurzem kolportierte Mär, das autokratische Regime in Serbien sei der Stabilitätsanker des Westbalkans, ist nun vollends diskreditiert, wobei Vucic mittels seiner Statthalter in Kosovo und Bosnien und Herzegowina schon lange zündelt. Washington hatte dennoch die Parole des "Stabilitätsgaranten Vucic" vor einem Jahr zur Leitlinie seiner Balkan-Realpolitik gemacht, um Serbien aus der Umklammerung Russlands zu lösen und in die Ukraine-Allianz einzubinden. Diese "Fantasie-Diplomatie" ist endgültig an ihre Grenzen gestoßen.

Beschlagnahmte Waffen und Munition serbischer Paramilitärs, die Ende September kosovarische Polizisten in einen Hinterhalt lockten und angriffenBild: Vudi Xhymshiti/VX/picture alliance

Die Bilder dieser Tage gleichen erschreckend denen aus Kroatien vom Sommer 1990, als serbische Paramilitärs kroatische Polizisten in Hinterhalte lockten und beschossen. Diese Angriffe begannen bereits Monate vor dem eigentlichen Kriegsbeginn im Juni 1991. Ein Jahr später waren es wiederum serbische Paramilitärs, die ab März 1992 die bosnische Hauptstadt Sarajevo von der Außenwelt abschnitten. Damals hatte der serbische Präsident Slobodan Milosevic einen Plan ausgearbeitet, alle serbisch-besiedelten Gebiete Jugoslawiens in einem Staat zu vereinen und ein Großserbien zu schaffen.

Serbiens Aufrüstung

30 Jahre nach den Jugoslawien-Kriegen hat sich in Belgrad ein Regime etabliert, das mal mehr, mal weniger offen Milosevics Projekt zu realisieren sucht - Präsident Vucics engster Vertrauter ist sein mächtiger Nachrichtendienstdirektor Aleksandar Vulin, der Hauptprotagonist des großserbischen Nachfolgeprojekts namens "Serbische Welt". Dritter im Bunde ist der serbische Außenminister Ivica Dacic, mit dem Vucic in den 1990er Jahren den Propaganda-Apparat Milosevics führte.

Serbien Staatspräsident Aleksandar Vucic, hier bei einer Pressekonferenz am 24.09.2023, bei der er bestritt, dass er und seine Regierung etwas mit dem paramilitärischen Zwischenfall in Nordkosovo zu tun habenBild: Zorana Jevtic/REUTERS

Das großserbische Trio um den serbischen Präsidenten ist zu einer klaren und unmittelbaren Gefahr für die Nachbarn Serbiens geworden, die militärisch hoffnungslos unterlegen sind. Dies demonstrieren folgende Fakten: Bereits 2021 titelte der Economist, dass Serbien auf "Waffeneinkaufstour" sei und somit seine Nachbarn ängstige. Serbiens Rüstungsetat hat sich laut Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI von 2015 bis 2022 immerhin verdoppelt, auf knapp 1,5 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Der Kosovos hat sich im selben Zeitraum zwar ebenfalls verdoppelt, liegt aber nur bei gut 100 Millionen Dollar. Die Eidgenössische Technische Universität Zürich (ETU) analysierte in einer Studie zur regionalen Aufrüstung 2021, dass die übermäßige Bewaffnung Serbiens das Vertrauen auf dem Westbalkan untergrabe.

"Bosnisierung" Kosovos?

In Anbetracht dieser Fakten verwundert es nicht, dass Pristina sich weigert, jenes Brüsseler Abkommen eines serbischen Gemeindeverbands ("Zajednica") von 2013 umzusetzen, das eine hohe Autonomie der zehn serbischen Mehrheitsgemeinden Kosovos vorsieht. Es sollte erwähnt werden, dass die Verfassung Kosovos umfangreiche Minderheitenrechte garantiert. Obwohl die zahlreichen ethnischen Minderheiten Kosovos kaum mehr als acht Prozent der Bevölkerung stellen, sind von den 120 Parlamentssitzen 20 für sie garantiert, davon allein zehn für Serben, die zwischen drei und fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ebenso gibt es auf kommunaler Ebene eine umfassende garantierte Teilhabe von Minderheiten, sobald diese zehn Prozent der jeweiligen Gemeindeeinwohnerzahl erreicht.

Der kosovarische Premierminister Albin KurtiBild: AFP via Getty Images

Die von Albin Kurti geführte Regierung Kosovos befürchtet, durch einen serbischen Gemeindeverband eine Art Republika Srpska 2.0 wie in Bosnien durch die Hintertür zu schaffen. Die den bosnischen Serben im Daytoner Friedensvertrag garantierte Autonomie hat Bosnien an den Abgrund eines Krieges gebracht, da der bosnische Serbenführer Milorad Dodik die Abspaltung der Republika Srpska von Bosnien forciert - und zwar mit Vucics Duldung, wenn nicht sogar mit seinem Wohlwollen.

Präventiver Einsatz zusätzlicher Truppen

Was kann der Westen tun, um die Situation zu beruhigen? Er sollte erkennen, dass die serbischen Aspirationen auf serbisch besiedelte Territorien in Kosovo und Bosnien real sind. Es hilft nur temporär, den einen akuten Unruheherd - gegenwärtig Kosovo - zu stabilisieren, Bosnien aber zu vernachlässigen, denn dort wird Belgrad ansetzen, wenn es von der NATO in Kosovo abgeschreckt worden ist.

Ein Einsatzfahrzeug der Bundeswehr überquert am 13.07.2005 eine Brücke in der Nähe des EUFOR-Feldlagers Rajlovac bei Sarajevo, Bosnien und HerzegowinaBild: Lars Pötzsch/Bundeswehr/dpa/picture alliance

Praktisch gesehen gäbe es eine schnelle Lösung mittels einer Verstärkung der erfolgreich von der NATO und EU geführten Militärmissionen in Kosovo (KFOR) und Bosnien (EUFOR/Althea). Das trifft insbesondere auf die völlig ausgedünnte EUFOR zu, in der nur 1350 Soldatinnen und Soldaten Dienst tun. Es gibt tatsächlich ein Lehrbuchbeispiel, wie der präventive Einsatz von Friedenstruppen einen Krieg verhindern und einen potentiellen Aggressor abschrecken kann: Vor 30 Jahren, im Januar 1993, stationierte die UNO eine 1000 Personen starke Friedenstruppe, die Hälfte davon US-Soldaten, im Norden Mazedoniens entlang der Grenze zu Serbien, um eine Aggression Belgrads gegen seinen südlichen Nachbarn zu verhindern. Diese kleine, auch salopp als "Stolperdraht" bezeichnete Truppe schaffte es tatsächlich über viele Jahre, den Frieden im Lande zu sichern.

Daraus ergibt sich die naheliegende Option, die an Serbien grenzenden Regionen Kosovos und Bosniens mittels KFOR und EUFOR-Verbänden zu schützen. Wenn NATO- und EU-Truppen die gemeinsamen Grenzen zwischen Kosovo und Serbien beziehungsweise Bosnien und Serbien überwachen würden, wäre das eine wasserdichte Sicherheitsgarantie. Das Beispiel der UNO-Friedensmission in Mazedonien 1993 hat genau dies bewiesen.

Den teuer geschaffenen Frieden mit ein paar zusätzlichen Einheiten zu sichern wäre allemal eine bessere Alternative, als eines Tages Bomben werfen zu müssen. Ein preiswerteres und Menschenleben besser schützendes Konfliktvermeidungsszenario ist kaum vorstellbar.

Alexander Rhotert ist Diplom-Politikwissenschaftler und Autor. Er forscht seit 1991 zum ehemaligen Jugoslawien und arbeitete in verschiedenen Positionen u.a. für die UNO, die NATO, die OSZE sowie den Hohen Repräsentanten (OHR) in Bosnien und Herzegowina.